Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
Vom Netzwerk:
Frau willen, die ihn ihr weggenommen hatte? Und warum sollte sie etwas anderes tun, als die Verbindung zu trennen und sich vorzunehmen, nie wieder mit ihm zu sprechen?
    Aber er war verzweifelt, und Tom hatte Recht. Sie kam dem Experten, den sie brauchten, so nah wie niemand sonst. Er musste es einfach tun. Er musste seine Gefühle, nicht zuletzt seine Feigheit, überwinden und diese Nummer wählen. Jetzt sofort.
    Er ging eine Zeit lang auf und ab und legte sich seine einleitenden Worte zurecht. Es war wie beim Schreiben für die Zeitung: Wenn er den ersten Satz hatte, konnte er sich hineinstürzen und hoffen, dass sein Instinkt den Rest erledigte. Um seine Erfolgschancen zu vergrößern oder zumindest sein sofortiges Scheitern zu verhindern, wandte er außerdem einen ziemlich billigen Trick an.
    Er vermutete, wenn TCs Nummer noch in seinem Telefon gespeichert war, bestand zumindest die Möglichkeit, dass auch seine noch auf ihrer SIM-Karte lebte. Er stellte sich vor, wie sein Name auf ihrem Display aufleuchtete.
    Also benutzte er Toms Telefon; er wusste, dass sie diese Nummer nicht kannte. Es war ein Überfall.
    »Hallo, TC? Hier ist Will.« Lärm im Hintergrund. Ein Club? Eine Party?
    »Hi.«
    »Will Monroe.«
    »Ich kenne keinen anderen Will, Will. Nicht vorher, und nicht nachher. Was gibt’s?«
    Das musste er ihr lassen: eine schlagfertige Antwort, ohne eine Sekunde nachzudenken – das war nicht schlecht. Und typisch für sie: die Andeutung einer Spitze, der Verweis auf das Vergangene, schnell formuliert. Der einzige Misston war dieses »Was gibt’s?«. Das war kein Satz, der zu ihr passte. Die Leichtigkeit wirkte gezwungen, und die Anspannung klang durch, mit der sie mit einem Mann sprach, den sie geliebt und der sie abgewiesen hatte.
    »Ich muss dich sofort sehen. Du weißt, ich würde dich nicht auf diese Weise behelligen, wenn es nicht sehr wichtig wäre. Und das ist es. Ich glaube, es geht um Leben und Tod.« Bei dem letzten Wort schluckte er, und er wusste, dass TC es gehört hatte.
    »Ist etwas mit deiner Mom? Geht’s ihr nicht gut?«
    »Es geht um Beth. Ich weiß –« Er konnte den Satz nicht vollenden; er wusste nicht, wie er weitergehen sollte. »Ich muss dich sofort sehen.«
    Sie stellte keine weiteren Fragen. Sie gab ihm einfach ihre Adresse. Nicht ihre Privatadresse, sondern die eines Hauses mit Künstlerateliers in Chelsea. Das sei näher, sagte sie, aber Will vermutete, dass ein anderes Motiv dahinter steckte. Vielleicht war sie mit jemandem zusammen, vielleicht war es ihr unangenehm, dass sie immer noch allein war – vielleicht ertrug sie auch seine Nähe nicht in ihrer Wohnung.
    Künstlerateliers. In diesem einen Wort verbarg sich eine ganze Geschichte. Es bedeutete, dass sie ihren Vorsatz ausgeführt hatte: Sie hatte davon geträumt, Künstlerin zu werden, und immer wieder hatten sie an jenen langen Nachmittagen im Bett miteinander darüber gesprochen. Er – und auch sie – hatte sich gefragt, ob sie den Mut und die Kraft dazu haben würde. Er war froh, dass sie es geschafft hatte. Mehr als das – er war stolz.
    Knapp eine Stunde später trat er aus einem Lieferantenaufzug, einem dieser altmodischen Kästen mit einem eisernen Ziehharmonikagitter. Keine technische Notwendigkeit, nahm er an, sondern eher ein Künstlerfimmel: eine Kolonie von Bohemiens in einer umgebauten Konservenfabrik. Im vierten Stock stieg er aus. Es war still und dunkel hier oben. Er sah, dass eine Ecke des großen Raums für eine Bildhauerin reserviert war, die anscheinend auf weibliche Bäuche spezialisiert war. Eine Werkstatt, die aussah wie eine Schlosserei, war in Wirklichkeit der Arbeitsplatz eines Mannes, der Installationen mit Neonröhren baute. Schließlich sah er an einer Tür ein fotokopiertes Blatt mit den Buchstaben TC. Kein Vor- und kein Zuname, nur die beiden Lettern. »Geschicktes Branding«, dachte er und klopfte leise an die Tür. Instinktiv hatte er beschlossen, dass männliche, englische Höflichkeit ihn vor ihrer weiblichen, amerikanischen Wut am besten schützen würde.
    Er hatte nur ein paar Sekunden Zeit, alles in sich aufzunehmen: Gemälde an den Wänden, drei weitere auf Staffeleien, und noch mehr lehnten in Luftpolster verpackt an den Wänden. Auf einem einfachen, ziemlich ramponierten Tisch standen eine Kaffeemaschine und vier ungespülte, verfärbte Becher. Daneben lagen mehrere Tüten Studentenfutter, die Mischung aus Nüssen und Trockenobst, die hier jeder gern aß, auch ohne zu

Weitere Kostenlose Bücher