Die Gerechten
drängten sich mit Graphikdesignern in die Aufzüge, und jeder zweite hielt einen dampfenden Becher mit überteuertem Kaffee in der Hand. Aber jetzt war es leer und still, und nur ein gelegentliches »Ping« verkündete, dass ein Aufzug ein paar Stockwerke nach oben gefahren und wieder zurückgekommen war.
Will nickte dem diensthabenden Securitymann zu, und der reagierte mit einem knappen Hochziehen der Brauen. Er verfolgte ein Baseballspiel auf einem Monitor, der zweifellos eigentlich an die interne Video-Überwachung der Feuertreppe oder des Hintereingangs angeschlossen sein sollte. Will zog seine Karte durch und fuhr hinauf in die Redaktion.
Er war froh, hier zu sein. Er arbeitete noch nicht lange bei der Times, aber sein Büro war schon eine vertraute Umgebung. Und nach Hause zu gehen, kam nicht in Frage. Bei der bloßen Vorstellung, zu hören, wie die Tür ins Schloss fiel, und in die stille Wohnung zu kommen, schauderte ihn. Die Bilder an der Wand, ihre Kleider im Schrank, ihr Duft im Bad – schon der Gedanke daran war beängstigend.
Außerdem hatte Josef Jitzhok ihm noch etwas anderes gesagt, bevor er angefangen hatte, ihm rätselhafte SMS-Nachrichten zu schicken. Schauen Sie sich Ihre Arbeit an, hatte er gesagt. Und über »Sprüche, zehn« hatte er sich klarer ausgedrückt.
Als er die Redaktion betrat, vermied er absichtlich jeden Blickkontakt mit allen, die ihm begegneten. Um diese Zeit waren hier hauptsächlich Produktionsmitarbeiter und keine seiner befreundeten Kollegen, aber er schaute trotzdem stur geradeaus und ging zielstrebig auf seinen Schreibtisch zu.
Als er näher kam und über die dünne Trennwand schauen konnte, bekam er Herzklopfen. Auf seinem Platz stand ein Karton. Hatte JJ davon gesprochen? Hatte er wörtlich gemeint, was er gesagt hatte? Gehen Sie in Ihr Büro, dort finden Sie alles ? Einen Karton mit lauter Antworten?
Will wusste, dass er phantasierte, aber er konnte nicht anders: Das letzte Stück legte er im Laufschritt zurück. Er griff nach dem Karton, spürte sein Gewicht und riss ihn auf. Er war leichter, als seine Größe vermuten ließ, und schwer zu öffnen. Endlich ließ sich die Oberseite aufklappen, und Will schob die Hand hinein und berührte etwas Weiches, Fleischiges – wie eine Frucht. Was zum Teufel war das? Er wühlte weiter und fühlte etwas Feuchtes. Seine Finger schoben sich in eine Öffnung und hoben den ganzen Gegenstand wie an einem Haken heraus.
Ein Halloween-Kürbis. Will hatte die Finger in die Augenhöhlen geschoben.
Eine Karte war dabei.
Die Good Relations Company lädt zu einem besonderen Abend …
Irgendeine blöde PR-Veranstaltung. Die Einladung zu Promotion-Events in New York wurden immer absurder und exzessiver: FedEx-Pakete mit hohen Zustellkosten enthielten einen silbernen Schlüssel, der dann die Eintrittskarte zur Präsentation eines neuen Ericsson-Handys darstellte. Dem englischen Puritaner in ihm widerstrebte diese grelle Verschwendung. Spontan ergriff er den Kürbis und schleuderte ihn durch den Raum. Er landete vor Schwarz’ Schreibtisch und zerplatzte.
Es wird ihm kaum auffallen.
Er warf einen Blick auf die Post: Rundschreiben und Pressemitteilungen, soweit er es übersehen konnte. Wenig Neues war gekommen – eine Einladung zu einer Party im Britischen Konsulat in New York; ein Handzettel für eine Tagung irgendeiner evangelikalen Gruppe, der Kirche des Wiedergeborenen Jesus; ein Infoblatt über die Krankenversicherung bei der Times – sonst sah der Papierstapel genauso aus wie am Montag, als er zuletzt in der Redaktion gewesen war.
Das war vor nicht mal einer Woche gewesen, aber ihm kam es vor wie ein ganzes Menschenleben. Es schien ihm als gehörte es in eine ganz andere, goldene Ära – in die Zeit vor der Entführung. Wie gut war es ihm da gegangen, als er über die Landstraßen von Montana gedonnert war und keine größeren Sorgen gehabt hatte als den unzuverlässigen Geschmack der überregionalen Redaktion. Natürlich hatte er es da nicht zu schätzen gewusst; er war sogar dumm genug gewesen, niedergeschlagen über den Patzer nachzugrübeln, den er mit seiner Hochwasser-Story begangen hatte. Eins von Beths Lieblingsliedern ging ihm durch den Kopf – besser gesagt, eine Zeile davon. Joni Mitchell sang: »You don’t know what you’ve got till it’s gone.« Was du hast, weißt du erst, wenn es weg ist. Aber dann war es nicht mehr Jonis, sondern Beths Stimme. Sie sang sehr gern, und er hörte ihr mit Begeisterung zu. In
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