Die Gerechten
dachte, ich hab vielleicht mein Notizbuch hier liegen lassen. Auf Terrys Schreibtisch, meine ich.«
McDougal reckte theatralisch den Hals und suchte den Schreibtisch ab, als sei das eine schwierige Aufgabe, obwohl der Tisch sichtbar leer war.
»Scheint aber nicht da zu sein, nicht wahr, William?«
»Nein, Sir. Anscheinend nicht.« Das »Sir« war ihm sofort peinlich. Außerdem merkte er, dass er so weit zurückgelehnt auf Waltons Schreibtischstuhl saß, dass er umzukippen drohte – wie ein Mann, der mit einer Waffe bedroht wurde.
»Wir haben Sie gestern nicht in der Redaktion gesehen, William. Harden hat schon befürchtet, Sie seien entführt worden.«
Will lief es eisig über den Rücken, als kämpfe er gegen eine schwere Grippe an. Er war so müde.
»Nein, ich arbeite an etwas. An einer Story.«
»An was für einer Story, William? Haben Sie wieder einen überraschenden Helden für uns gefunden? Einen weiteren Rohdiamanten wie diesen heiligmäßigen Zuhälter? Noch einen organspendenden Irren?«
Will hatte einen furchtbaren Gedanken. Entweder wollte der Chef sich über ihn lustig machen, oder – was noch schlimmer wäre – er war skeptisch. Die Zeitung war ein gebranntes Kind: Junge Männer, die es nicht abwarten konnten, sich einen Namen zu machen, hatten sich als schöpferische Autoren statt als Journalisten betätigt – und die New York Times hatte ihre Erzeugnisse geschluckt und auf Seite eins gebracht. Noch heute erzählte man von dem Jayson-Blair-Skandal, der einen von Townsends Vorgängern den Kopf gekostet hatte. Blairs Geschichten waren genau das und nichts weiter gewesen: Geschichten.
Will wurde bewusst, wie er jetzt aussehen musste. Unrasiert und nervös trieb er sich aus unerfindlichen Gründen spät am Samstagabend in der Redaktion herum.
»Es ist nicht so, wie Sie denken, Sir.« Wills Zunge war schwer vor Müdigkeit, und er hatte einen trockenen Mund. »Ich wollte nur im Zusammenhang mit der Brownsville-Story etwas checken. Ich habe mein Notizbuch gesucht und dachte, vielleicht hat Walton -:‹
»Was sollte Walton mit Ihrem Notizbuch anfangen, William? Sie dürfen nicht alles glauben, was man Ihnen hier in der Redaktion erzählt. Denken Sie daran, Journalisten sagen nicht immer die Wahrheit.«
Wieder eine verhüllte Spitze gegen Will und seine Storys. Wollte er ihn auf seine vornehme Ostküstenart bezichtigen, die Storys über Macrae und Baxter getürkt zu haben? Er hatte natürlich nichts direkt ausgesprochen. Die ganze Zeit über blieb der Chefredakteur reglos und aufrecht stehen, und ’seine Gesichtsmuskeln bewegten sich kaum. Diese aufrechte Haltung war das Kennzeichen des Aristokraten aus Massachusetts, aber der unverwandte Blick war eine andere Sache. Es war die Pokermiene eines vollendeten Büropolitikers.
»Ich glaube gar nichts. Ich wollte nur meine Notizen noch einmal durchsehen.«
»Gibt es an der Story etwas, dessen Sie nicht sicher sind, William?«
Verdammt.
»Nein, ich hab mich nur gefragt, ob nicht noch mehr dahinter steckt.«
»Oh, da bin ich ganz sicher.«
Wieder eine Spitze.
»Sie müssen vorsichtig sein, William. Sehr vorsichtig. Journalismus kann ein gefährliches Geschäft sein. Nichts ist wichtiger als die Story, sagen wir immer. Und das ist beinahe die Wahrheit. Aber nicht ganz. Es gibt immer etwas, das noch viel wichtiger ist, William. Und wissen Sie, was das ist?«
»Nein, Sir.« Er stand plötzlich wieder im Büro des Schuldirektors.
»Ihr Leben, William. Darauf müssen Sie Acht geben. Also hören Sie auf meine Worte: Seien Sie sehr vorsichtig.« Er machte eine lange Pause. »Ich werde Harden sagen, dass Sie sich ein bisschen ausruhen.«
Mit diesen Worten verschwand der Chefredakteur im Halbdunkel und glitt majestätisch hinüber zur überregionalen Redaktion. Will ließ sich auf Waltons Stuhl fallen und tat einen hörbaren Seufzer. Der Chef hielt ihn für einen Junkie, der demnächst abstürzen und die Times mit sich reißen könnte.
Und jetzt »ruhte er sich ein bisschen aus«. Das hörte sich nach einem Management-Euphemismus an. Er wurde beurlaubt, bis sie sich vom Wahrheitsgehalt der Storys über Macrae und Baxter überzeugt hätten. War sein Notizbuch vielleicht deshalb verschwunden? Hatte Townsend es als Beweismaterial an sich genommen?
Er wollte zu seinem Schreibtisch zurückkehren, als er merkte, dass er immer noch die Schneekugel mit Saddam in der Hand hielt. Sie war feucht von seinen verschwitzten Fingern. Während des ganzen Gesprächs
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