Die Gerechten
mit Townsend hatte er sie fest umklammert gehalten. Das musste toll ausgesehen haben: nicht nur weit aufgerissene Augen, sondern die ganze Zeit eine geballte Faust.
Als seine Finger sich öffneten, sah er den schlichten kleinen Schlüssel, der ihm zweifellos Waltons Schreibtischschublade öffnen würde. Er wusste, es war Wahnsinn, jetzt damit weiterzumachen, nachdem sein Chef ihn in aller Form gewarnt hatte. Aber ihm blieb nichts anderes übrig. Seine Frau war eine Geisel, und vielleicht fand sich in seinem Notizbuch ein Hinweis darauf, wie sie zu befreien wäre.
Will sah sich um, ob auch niemand in der Nähe war. Wohlweislich drehte er sich einmal um sich selbst – Townsend war unbemerkt von hinten herangekommen. Dann riss er den Klebstreifen mit dem Schlüssel ab und schob ihn ins Schloss. Ein kurzer Versuch, und er ließ sich drehen.
In der Schublade lagen mehrere hellbraune Akten säuberlich übereinander. Dazwischen blinkte, kaum verborgen, die Spiralbindung eines Reporterblocks. Will zog ihn hervor und sah den Namen, der auf den Umschlag gekritzelt war.
Brownsville.
O Gott. Woodstein hatte die Wahrheit gesagt. Walton hatte sein Notizbuch gestohlen. Der Himmel wusste, warum. Die Story war bereits erschienen. Es gab keinen Knüller zu stehlen. Was konnte ihm das Buch nützen? Will schob die Frage beiseite: Es gab genug Rätsel zu lösen, ohne sich auch noch mit Waltons bizarrer Neigung zu journalistischer Kleptomanie zu beschäftigen.
Will wollte sofort anfangen zu blättern, aber zuerst musste er die Schublade wieder verschließen, den Schlüssel unter die Schneekugel kleben und an seinen eigenen Tisch zurückkehren – und das alles, ohne bemerkt zu werden. Weshalb er davor noch Angst hatte, wusste er nicht – der Chef hatte ihn bereits ertappt, und der Schaden war angerichtet.
Trotzdem schlug er das Notizbuch erst auf, als er wieder an seinem Platz saß. Er überlegte, wie er vorgehen wollte. Zuerst eine schnelle Suche nach etwas, das nicht hineingehörte: nach einem Zettel, der zwischen den Seiten klemmte, nach einer gekritzelten Notiz in einer Handschrift, die nicht seine eigene war. Vielleicht hatte Josef Jitzhok durch irgendeinen unergründlichen Zaubertrick eine Botschaft hineingeschmuggelt: Schauen Sie sich Ihre Arbeit an.
Will blätterte schnell und überflog die Zeilen auf der Suche nach etwas Unbekanntem. Aber da war nichts, nur seine eigene Kurzschrift. Es war so still, selbst CNN auf lautlos gestellt, dass das Blättern laut zu hören war. Sogar sein eigenes Gehirn konnte er hören.
Einen Augenblick lang geriet er in Aufregung, als ihm zwei Zeilen ins Auge sprangen, die eindeutig von anderer Hand stammten – aber das waren die Kontaktadresse von Rosa, der Frau, die Macraes Leiche gefunden hatte, von ihr selbst in sein Notizbuch gekritzelt. Will fiel ein, dass er versprochen hatte, ihr ein Exemplar des Artikels zu schicken, wenn er erschienen wäre.
Da stand keine rätselhafte Telefonnummer, keine eingeschmuggelte Botschaft – aber wie hätte das auch sein können? Er wusste ja nicht, wie lange das Notizbuch schon in Waltons Schublade versteckt gelegen hatte.
So starrte er angestrengt den einen Hinweis in seinem Buch an, von dem er schon gewusst hatte – die Notiz, die ihn veranlasst hatte, das Buch zu suchen. Da war es, auf einer der letzten Seiten, mit Sternchen umgeben, das Zitat, das den Artikel vollendet hatte – von Letitia, der treuen Ehefrau, die bereit war sich zu prostituieren, um ihren Mann aus dem Gefängnis zu holen.
»Ich sage Ihnen, Mr. Monroe, und der He?r ist mein Zeuge: Der Mann, den sie gestern Nacht umgebracht haben, mag an jedem Tag seines Lebens, den Gott ihm geschenkt hat, gesündigt haben – aber er war der gerechteste Mann, den ich je gesehen habe.«
Im nächsten Augenblick war er wieder in Montana und sprach mit Beth am Telefon. Will wurde klar, dass dies sein letztes Gespräch mit ihr war, bevor sie entfuhrt wurde. Er berichtete ihr von seinen Recherchen über Leben und Tod von Pat Baxter. Er hörte seine eigene Stimme, wie er begeistert erzählte, ohne zu merken, dass Beth mit den Gedanken woanders war.
»Weißt du, es ist komisch. Es fiel mir gleich auf, weil keiner das Wort mehr in diesem Sinne benutzt – oder kaum jemand. Aber die Chirurgin, die Baxter operiert hat, gebrauchte es, genau wie diese Letitia. Sogar beide auf die gleiche Weise, im gleichen altertümlichen Sinne: ›der gerechteste Mann, den ich je gesehen habe. Das Gerechteste, was wir
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