Die Gerechten
je erlebt haben.‹ Ist das nicht merkwürdig?«
Er hatte die Sache mit Beth nicht weiter besprochen, denn ihm war rasch klar geworden, dass sie kaum hinhörte. Sie war völlig beschäftigt mit dem Thema, das auch ihn hätte völlig beschäftigen müssen: ihr Problem, schwanger zu werden. Sein Mund wurde trocken. Vielleicht musste Beth sterben, ohne je Mutter geworden zu sein.
Aufseufzend schob er den Gedanken beiseite und starrte auf das Blatt in seinem Notizbuch, auf das, was er da geschrieben hatte: der Gerechteste, den ich je gesehen habe.
Er hatte mit dem Gedanken gespielt, auf dieses unheimliche Echo hinzuweisen, als er die Baxter-Geschichte geschrieben hatte, aber beinahe sofort hatte er ihn verworfen: Es wäre zu wichtigtuerisch erschienen, eine Ähnlichkeit zwischen zwei Storys zu erkennen, die in Wirklichkeit nichts weiter miteinander gemeinsam hatten als seinen Namen. Baxter und Macrae hatten an entgegengesetzten Enden des Kontinents gelebt, und die beiden Todesfälle hatten nichts miteinander zu tun. Einen Widerhall des einen Mordes in einem zweiten zu entdecken, ergab journalistisch nur Sinn, wenn beide Fälle in der Öffentlichkeit detailliert bekannt waren. Aber das war hier nicht der Fall, und darum hatte Will darauf verzichtet. Und erst an diesem Abend hatte er wieder daran gedacht, als er und TC mit dem obdachlosen Bibelprediger im McDonald’s gewesen waren. Fast jeder Vers aus dem zehnten Kapitel des Buchs der Sprüche hatte dieses Wort enthalten, und es war so oft vorgekommen, dass es kein Zufall sein konnte. Der Gerechte.
Zunächst war er skeptisch gewesen. Die Morde konnten nichts miteinander zu tun haben. Schwarze Zuhälter in New York und weiße Irre im Hinterwald von Montana verkehrten weder in denselben Kreisen, noch hatten sie dieselben Feinde. Welten lagen zwischen ihnen, im Leben wie im Tode.
Aber diese beiden exzentrischen Geschichten waren einander doch auf seltsame Weise ähnlich. Beide Männer waren zweifelhafte Charaktere gewesen und hatten doch eine gute Tat begangen. Eine außergewöhnlich gute Tat sogar. Gerecht. Und beide waren ermordet worden, ohne dass es hier wie da einen Verdächtigen gab.
Will drehte sich zu seinem Monitor um. Er rief die Website der Times auf und suchte seine Story über Macrae. Er wollte die Story ganz analytisch lesen, um zu sehen, ob darin etwas Neues zu entdecken war.
Die Polizei spricht von einem brutalen Messerangriff und zahlreichen Stichen in den Leib des Opfers. Nachbarn zufolge entspricht diese Art des Mordens der neuesten Mode unter rivalisierenden Banden: »Messer«, sagt einer, »sind die neuen Pistolen.«
Die Morde selbst waren unterschiedlich begangen worden: Baxter hatte man erschossen, Macrae erstochen. Will öffnete die Baxter-Story in einem neuen Fenster. Er scrollte nach unten, bis er zu den gerichtsmedizinischen Angaben kam, zu Art und Zeitpunkt des Todes. Schließlich fand er die Stelle, die er suchte.
Zunächst hegten Mr. Baxters Miliz-Kameraden den Verdacht, es handele sich um einen makabren Fall von Organdiebstahl. Seine philantropische Tat war ihnen unbekannt, und daher vermuteten sie, Mr. Baxter habe seine Niere zum Zeitpunkt seines Todes verloren – eine Theorie, die umso plausibler erschien, als der Leichnam Spuren einer kürzlich erfolgten Anästhesie aufwies: einen Nadelstich.
Will las weiter, als lese er die Story zum ersten Mal. Er hätte den Autor verfluchen können: Da stand nichts weiter über die mysteriöse Injektion. Die Sache blieb unklar.
Er griff zu seinem aktuellen Notizbuch, das er mit nach Seattle genommen hatte. Er blätterte darin, bis er das Interview mit Genevieve Huntley fand, der Chirurgin, die Baxters Niere entnommen hatte. Er erinnerte sich, wie er mit ihr gesprochen hatte – am Steuer seines Mietwagens, das Handy ans Ohr geklemmt. Er hatte sie einfach reden lassen und sich gehütet, ihr ins Wort zu fallen. Seinen Notizen zufolge hatte er keine weiteren Fragen nach dem Nadeleinstich gestellt. Rückblickend wusste er auch, warum nicht: Er hatte die Sache für unwichtig gehalten, nachdem die Chirurgin ihm von der Nierenspende berichtet hatte. Die Story hatte sich geändert; es ging nicht mehr um blutrünstige Organräuber, sondern um einen rechtschaffenen Mann, und dieses unpassende Detail war dabei in Vergessenheit geraten. Außerdem hatte sie gesagt, dass keine weitere Operation stattgefunden habe, und deshalb hatte eine kürzlich erfolgte Injektion nicht ins Bild gepasst.
Aber jetzt
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