Die Gerechten
hatten auf ihrer Seite keinen Mangel an Besprechungszimmern. O Gott – vielleicht suchte Townsend ihn! Vielleicht kam er mit einem ganzen Trupp von leitenden Angestellten, um ihn ins Verhör zu nehmen.
Das durfte er nicht riskieren, nicht jetzt. Blitzschnell, und ohne sich die Zeit zu nehmen, genau hinzusehen, schob Will alles Wichtige – Handy, Notizbücher, seinen Stift, den Blackberry – vom Schreibtisch in seine Tasche, drehte sich um und ergriff die Flucht. Der einzige Vorteil dieser abgelegenen Ecke der Redaktion, erkannte er, bestand in ihrer Nähe zur Hintertreppe. Er hatte sie noch nie benutzt, aber jetzt war es die einzige Möglichkeit.
Als er draußen war, sog er die Nachtluft tief in die Lunge. Unter der Times- Uhr blieb er stehen, lehnte sich an die Wand und schloss erleichtert die Augen.
Zu dieser späten Stunde war kaum noch jemand unterwegs. Unter normalen Umständen gefiel ihm diese Atmosphäre: zu arbeiten, wenn der Rest der Stadt es nicht tat, ein halb leeres Büro zu verlassen und in das nächtliche Manhattan hinauszuspazieren. Es war etwas ganz anderes als das übliche Gewimmel in dieser Straße. Niemand war zu sehen, nur ein einsamer Tourist in ärmelloser Vlies-Weste und Baseballcap stand vor einem der Aushangfenster der Times und betrachtete zweifellos eine alte Druckmaschine oder ein gerahmtes Foto, auf dem der selige Mr. Sulzberger Harry Truman die Hand schüttelte. Er schien zu frieren, wie er da so herumstand. Aber Will hatte es eilig, wegzukommen. Er schaute gar nicht hin.
30
SAMSTAG, 23.02 UHR, MANHATTAN
TCs Zimmer sah genauso aus, wie er es sich vorgestellt hätte – und jetzt wurde ihm klar, dass er es sich tatsächlich schon vorgestellt hatte. Vielleicht ein Dutzend Mal, seit er mit Beth verheiratet war, hatte er länger als ein, zwei Sekunden an TC gedacht. Das waren ausgedehnte Tagträume gewesen, in denen er ihre Stimme, ihr Gesicht, ihren Duft heraufbeschworen hatte. In diesen Träumen – manchmal hatte er dabei aus einem Flugzeugfenster geschaut, manchmal auch am Steuer des Wagens gesessen, während Beth auf dem Beifahrersitz schlief – war er TC aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit in eine Gegenwart gefolgt, die er nur in seiner Phantasie kannte. Dann gab er sich große Mühe, sich ihr Gesicht, vier Jahre älter, vorzustellen. Oder sie bei der Arbeit zu sehen. Oder sich den Mann auszumalen, mit dem sie jetzt zusammen war.
Bei diesen Ausflügen sah er die Tür ihres Apartments, die sich öffnete und einen Blick auf Bücherregale und cremefarbene Sofas und einen vernachlässigten kleinen Fernseher bot. Er musste sich anstrengen – aber nicht zu sehr, damit der Zauber nicht zerstob –, um TCs Geschmack auf den heutigen Stand zu bringen. Es war zu einfach, sie in ihrer Studentenwohnung zu sehen, als wäre sie in ihrem gemeinsamen romantischen Winter an der Columbia erstarrt wie eine Fliege im Bernstein. Er wollte sich seine frühere Freundin vorstellen, wie sie jetzt war.
Und er hatte gute Arbeit geleistet. Das Zimmer war nicht so bohèmehaft wie das Atelier, in dem er sie in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Ein großer Teil der Möbel sah unbestimmt exotisch aus – dunkle Holztische, die vermutlich aus Indien oder Thailand stammten, und zwei bezaubernde marokkanische Fensterläden aus mattblauem Holz, die aber nicht an einem Fenster, sondern wie Gemälde an der Wand hingen. Souvenirs, vermutete Will, von einer eindrucksvollen Reise: TC war schon eine furchtlose Weltenbummlerin gewesen, als er sie kannte.
Aber es gab keine Räucherstäbchen, keine Batiktücher auf den Sofas. Er wusste, dass TC ihn nicht gern hereingelassen hatte, aber als er sie auf der Straße angerufen hatte, nachdem er aus der Redaktion geflohen war, hatte sie gesagt, sie habe das Herumsitzen in Fastfood-Lokalen satt. Sie müsse duschen und in ihrem eigenen Bett schlafen – und zum Teufel mit dem Risiko. Will, der erst am Nachmittag in einer SMS an JJ geschrieben hatte, er habe genug von »albernen Spielchen«, wusste genau, was sie meinte. Er fragte einfach nach ihrer Adresse und erklärte, er werde gleich da sein. Vermutlich war es für sie beide einfacher, wenn sie keine Gelegenheit hatte, nein zu sagen.
Als er hereinkam, tat sie, als sei das nichts Besonderes: kein feierliches Aufreißen der Tür, kein Rundgang durch das Apartment. Sie kniete auf dem Boden ihres Wohnzimmers – es gab keinen Eingangsflur –, umgeben von gelben Post-it-Zetteln. Auf jedem stand ein Bibelvers. Will
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