Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Ton.
Sie haben eine scharfe Urteilskraft, und zum Lernen fehlt es ihnen nicht an Gaben. Es gibt unter ihnen Liederdichter, die man Barden nennt. Diese begleiten ihren Gesang, worin sie einige lobpreisen, andere schmähen, mit einem der Leier ähnlichen Werkzeug. Ferner gibt es Philosophen, die der Götterlehre kundig sind und in sehr hohem Ansehen stehen; man nennt sie Druiden. Auch hat man Wahrsager, denen man ebenfalls viel Ehre erweist. Sie sagen aus dem Vogelflug und aus der Opferschau die Zukunft voraus und haben das ganze Volk in ihrer Gewalt.
Übersetzt von Julius Friedrich Wurm, 1829, leicht modernisiert
Die Macht der Schrift
Runen dienten als Zauberzeichen, transportierten aber auch profane Mitteilungen. Wie das Germanen-Alphabet entstand und was die Inschriften bedeuten, ist bis heute weithin unklar.
Von Jenny Becker
Die Botschaft auf dem kleinen Kamm ist leicht zu übersehen. Hauchdünn sind die Zeichen in die bräunliche Oberfläche aus Hirschhorn geritzt, so unscheinbar, dass sie lange niemand bemerkte. Zwölf Jahre lag der Kamm im Archiv, bis endlich 2012 ein Lichtstrahl im richtigen Winkel die germanischen Zeichen zum Vorschein brachte. Vier Runen sind es: Kaba. Das bedeutet »Kamm«. Was haben sich die Germanen dabei gedacht? Warum schrieben sie das Wort »Kamm« auf einen Kamm?
Gefunden wurde das dreieckige, etwa 1700 Jahre alte Teil bei Erfurt, in einem Opferschacht, zusammen mit Tierschädeln, Goldringen und Münzen. Vom 1. bis zum 5. Jahrhundert gab es an dieser Stelle einen germanischen Kultplatz. Wurde der Kamm also den Göttern dargebracht und deshalb bezeichnet? Ein gewöhnlicher Alltagsgegenstand war er kaum. Das Haar galt als Sitz der Lebenskraft. So hatte auch das Ding, das es ordnete, eine besondere, vielleicht magische Bedeutung. Und die Schrift? Sollte sie die Kräfte des Kamms verstärken?
Über das Zeichensystem aus 24 Runen hinaus ist wenig bekannt, fast alle Deutungen laufen ins Nebulöse. Seit Jahrhunderten versuchen Forscher, die Runen genauer zu verstehen, um zu erfahren, wie die Menschen damals die Welt sahen. Selten genug, dass sie diese Zeichen verwenden, eingeritzt in Knochen, Holz, Metall oder Stein, auf Waffen, Schmuck und Grabplatten.
Nach seinen ersten sechs Lauten heißt das Runenalphabet »Futhark«. Über 6500 authentische Texte hat man bisher gefunden, die meisten in Skandinavien, aber auch in Deutschland oder Großbritannien, ja selbst in der Ukraine. Kurze Mitteilungen fast immer, Namen, Gedenksprüche und magische Formeln. Doch bei kaum einer Inschrift sind sich die Experten über den Gehalt sicher.
Auf einem anderen Kamm aus dem dänischen Moor Vimose steht »Harja«. Damit könnte »das zu den Haaren Gehörende«, also eine Umschreibung für »Kamm« gemeint sein. Es könnte aber auch »der zum Heer Gehörende« bedeuten, also »Krieger«. Möglich wäre ebenfalls, dass sich »ein Mitglied des Stammes der Harii« verewigt hätte. Oder die fünf Buchstaben geben schlicht einen Männernamen an.
Schwierig wird die Deutung auch deshalb, weil die Runen Laut und Sinnbild zugleich liefern. Jede hat einen Namen, dessen tiefere Bedeutung nur erahnt werden kann. F, fehu, heißt »Vieh«, aber auch »beweglicher Besitz«. Die Rune þ, gesprochen wie das englische th, heißt þurisaz. Das bedeutet »Riese« und »unheimliche schadenbringende Macht«. Viele Gelehrte sehen in dem Runenalphabet einen Schlüssel zum kultisch-magischen Universum der Germanen. Doch war es wirklich eine Zauberschrift?
Profane Einritzungen sprechen dagegen. Sie benennen den Hersteller eines Gegenstandes: »Die Nichte machte (diesen Schildgriff).« Oder sie halten Rechtsverhältnisse fest. Auf einer silbernen Gewandspange aus dem 6. Jahrhundert ist graviert: »Inga bejaht das Erbe, … auf Widultar und das ganze Gesinde erhebt sie Anspruch.« Kein Wunder, dass der dänische Wissenschaftler Erik Moltke (1901 bis 1984) hoffte, irgendwann einen Frachtbrief voller Runen zu entdecken, der deren Nutzung als Alltagsschrift belegen würde.
Doch gegen einen rein weltlichen Sinn spricht einiges. Schon das Wort Rune heißt so viel wie »geheimes Wissen« oder »Geflüster«. Im »Raunen« ist diese Bedeutung noch erhalten. Esoteriker verwenden bis heute Runen als Orakel: Sie werden in Stäbe geritzt, zufällig auf dem Boden verteilt, aufgehoben und gedeutet. Genauso beschrieb der römische Gelehrte Tacitus im Jahr 98 ein germanisches Ritual. Aber handelt es sich bei den Zeichen, von denen er
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