Die Germanin
der Sammelpunkt, zu dem sie sich unverzüglich in Marsch setzen sollten.
Auch die Abordnung an Segestes machte sich sogleich auf den Weg. Dass Segithank nicht auf eigene Faust gehandelt hatte, sondern nur williges Werkzeug seines Gefolgsherrn gewesen war, galt den meisten nun als sicher. Das stärkte immerhin die Hoffnung, dass Arminius noch am Leben war. Segestes, so wurde vermutet, stand längst mit Germanicus in Verbindung. Zweifellos hatte er von dem geplanten Überfall auf die Marser Kenntnis gehabt und die Entführung mit dem römischen Feldherrn verabredet, um den Widerstand bei dessen weiterem Vormarsch zu schwächen. Ein gefangener Arminius, den Segestes Germanicus übergeben und den dieser später auf einem Triumphzug mitschleppen konnte, würde darüber hinaus einen Sieg erst vollkommen machen.
Zum Führer der Abordnung wurde Tammo bestimmt, dem alle die notwendige Unnachgiebigkeit gegenüber dem alten Fuchs Segestes zutrauten. Er sollte ihm mit der Belagerung und vollständigen Zerstörung seines Hofes drohen, falls er den Heerführer länger festhielte. Denn Arminius wurde, wenngleich abwesend, von den Versammelten erneut in diese hohe Stellung gewählt. Es war Krieg, man brauchte wieder einen Heerführer.
Tammo saß schon zu Pferde, als Nelda herbeilief.
»Ich habe eine Botschaft an meinen Vater!«, rief sie laut, sodass es alle, die am Tor versammelt waren, hören konnten. »Sag ihm, dass er sich mit Schande bedeckt, mit unauslöschlicher Schande, wenn er mit dem Mordbuben Germanicus gemeinsame Sache macht! Sag ihm, dass er dann nur noch Verachtung verdient! Sag ihm, dass ich ihn noch immer geliebt habe, ihn aber künftig, wenn das die Wahrheit ist, hassen werde! Sag ihm, dass ich trotz allem noch Hoffnung habe und dass ich ein Zeichen erwarte, zum Beweis seiner Unschuld. Wenn er seinen Gefangenen freilässt, will ich an seine Unschuld glauben und ihn lieben und achten wie zuvor!«
»Das werde ich ihm gern ausrichten«, erwiderte Tammo, »obwohl ich ihn für so hartherzig halte, dass ihn das alles nicht rühren wird.«
»Nimm den Cherusker mit, der die Nachricht brachte! Ja, er soll mit euch gehen. Er soll meinem Vater berichten, wie seine römischen Freunde bei uns wüten. Wie sie Frauen, Kinder und Greise ermorden! Es muss ihn rühren, es muss ihn erschüttern. Vielleicht ahnte er nicht, was sie vorhatten, als er sich wieder mit ihnen einließ. Er ist doch kein Unhold, er ist mein Vater…«
In diesen Tagen hatte Nelda immer wieder das Empfinden, sich an einem Abgrund zu bewegen. Um nicht in die Tiefe blicken zu müssen, hatte sie so lange die Augen geschlossen. Es war Täuschung gewesen, als sie glaubte, sich so eingerichtet zu haben, dass ihr vielleicht noch ein wenig Zeit blieb, dass ihr noch ein paar kurze Sommer eines friedlichen Glücks beschieden sein könnten. Sie war vor dreiundzwanzig Jahren geboren. Ein großer Teil ihres Lebens lag hinter ihr. Selten lebten die Frauen länger als dreißig Jahre. Male, ihre Mutter, war sechzehn Jahre älter als sie, das war ein selten hohes Alter, sie musste nun fast eine Greisin sein. Die meisten wussten nicht, wie alt sie waren. Eben noch waren sie anmutig, jung und gesund gewesen und schon starben sie ausgezehrt, krank, verbraucht, krumm und hässlich. Sie war noch schön, sie hatte noch genug Kraft, um weiterzuleben. Aber sollte es sein? Was hatten die Schicksalsfrauen beschlossen? War das Ende vielleicht schon nahe – so früh? Die Zeichen häuften sich. Den Mann, den sie liebte, hatte man plötzlich von ihrer Seite gerissen. Ihr Vater, der so viele Jahre der starke Baum gewesen war, in dessen Schutz sie sicher aufwachsen konnte, hatte ihr dieses Leid zugefügt. Ein freundlicher Jüngling, der Gedichte liebte, war zehn Jahre später ein grausamer Mordbrenner, dessen erbarmungslos wütende Scharen dort hinter den Wäldern lauerten und jeden Augenblick brüllend hervorbrechen konnten. War es das, was ihr bestimmt war? Sollte sie hinunterstürzen in diesen Abgrund von Blut und Gewalt, an dessen Rand sie dahintaumelte?
Solche Gedanken bedrängten sie, und immer mal wieder verkroch sie sich irgendwo in einem Winkel, um für Augenblicke allein zu sein. Wie wünschte sie sich jetzt, in ihre Höhle fliehen zu können, wo niemand sie sah, wo sie hemmungslos klagen und weinen konnte!
Hier hatte sie keine Höhle, sie war die Herrin. Sie musste überall nach dem Rechten sehen, Anweisungen geben und selbst Hand anlegen. Auf dem Wehrhof drängten sich
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