Die Germanin
weit über hundert Männer, die betreut und versorgt werden wollten. Die meisten Gäste waren geblieben, nur wenige Stammesführer waren selbst aufgebrochen, um ihre Mannschaften aufzubieten. Es waren diejenigen, deren Gaue dem Land der Marser, das jetzt das vorgeschobene Aufmarschgebiet der Römer war, am nächsten lagen. Sie beabsichtigten, sämtliche Dörfer zu räumen und die Menschen tief in die Wälder und Sumpfgebiete hineinzuführen, in die kein Römer vordringen konnte. Dann wollten sie mit den wehrhaften Männern zurückkehren.
Schon im Laufe des zweiten Tages nach Aussendung der Boten trafen die ersten Heerhaufen ein. An den folgenden Tagen zogen dann immer mal zehn, mal zwanzig, mal vierzig Männer heran, teils zu Fuß, teils beritten, doch auch kleinere Trupps und sogar einzelne Kämpfer. Mit Framen und Schilden waren die meisten bewaffnet, viele auch mit Keulen und Äxten. Schwerter besaßen nur die Anführer. Manche hatten sechzig, siebzig Meilen zurückgelegt. Es bewährte sich nun, dass Arminius Vorsorge getroffen hatte, um im Fall der Gefahr schnell über ein Heer verfügen zu können. Auf dem Herrenhof war nicht mehr Platz für alle, auf den Wiesen ringsum errichteten die Ankömmlinge ihre Zelte und Hütten.
Inguiomer wagte allerdings noch nicht, von der Befehlsgewalt Gebrauch zu machen, die ihm als nächstem Verwandten des Arminius vorübergehend verliehen worden war. Auch Erkulf und die anderen einflussreichen Männer rieten dazu, den Römern noch nicht entgegenzuziehen, sondern abzuwarten, was Tammo bei Segestes ausrichten würde. Während immer neue Haufen heranzogen, saßen die Anführer untätig auf dem Wehrhof unter der Linde. Einmal begaben sie sich des Nachts hinaus in den nahe gelegenen heiligen Hain, um Wodan, dem Gott des Krieges, und Tiwaz, seinem Vorgänger, Pferde zu opfern und ein frisch geschmiedetes Schwert auf den Altar zu legen.
So vergingen mehrere Tage in bleierner Ruhe und düsterer Spannung. Der Himmel war wolkenverhangen, kühler Herbstwind wirbelte die fallenden Blätter umher.
Der Erste der Männer kehrte zurück, die als Kundschafter in das Stammesgebiet der Marser geschickt worden waren. Er bestätigte, was man schon wusste: Alle Plätze, denen er sich genähert hatte, waren verwüstet und verödet, die unbestatteten Leichen rotteten in der Asche der Trümmerstätten. Doch von den Römern hatte er nichts bemerkt, obwohl er das Grenzgebiet in ganzer Länge von Süden nach Norden durcheilt hatte. Keinen einzigen – auch keinen toten – Legionär hatte er ausmachen können.
Kurz darauf war Tammo zurück. Nelda, die immer wieder auf die Wachtürme stieg, hatte ihn schon von weitem bemerkt. Bei ihm waren nur die Männer, mit denen er aufgebrochen war. Langsam ritten sie durch die Reihen der Kämpfer zwischen den Zelten, die gehofft hatten, ihren Heerführer mit begeisterten Heil-Rufen begrüßen zu können. Zu Hunderten liefen sie herbei und verlangten Auskunft.
»Arminius lebt«, berichtete Tammo, als ihn im Hof dann auch Nelda und die Stammesführer umringten. »Segestes hält ihn gefangen. Er ist bereit, ihn freizulassen, stellt aber eine Bedingung. Er öffnete uns nicht das Tor, sondern sprach nur vom Wall zu uns. Von dem Angriff auf die Marser will er nichts gewusst haben. Als er von uns hörte, was dort geschehen ist, sagte er nur, das sei wohl die Rache für Hunderte Offiziere und Legionäre, die vor fünf Jahren auf unseren Opferaltären getötet wurden. Ich glaube, er log – er war eingeweiht in den Angriffsplan. Aber was konnte ich ihm entgegenhalten?«
»Und die Bedingung?«, drängte Nelda.
»Ja, was will er von uns, damit er den Heerführer freilässt?«, riefen die Männer.
»Er will seine Tochter«, sagte Tammo.
»Er will mich?«, schrie Nelda. Unwillkürlich, wie zur Abwehr, hob sie die Hände und trat zwei Schritte zurück.
»Ist das alles?«, fragte Inguiomer.
»Ja«, sagte Tammo. »Das ist alles. Sie soll zu ihm kommen und sobald sie hinter dem Wall ist, will er den Heerführer freigeben. Dabei will er es einrichten, dass sich die beiden nicht begegnen. Nie wieder sollen sie sich begegnen.«
»Nicht begegnen?«, rief Nelda. »Nie wieder? Ich soll… Er will… Nein, das… das wäre zu grausam! Das kann er nicht verlangen! Nein, nein!«
»Arminius soll einverstanden sein«, sagte Tammo seufzend.
»Einverstanden? Mich nicht wiederzusehen?«
»Behauptete dein Vater. Er stieg vom Wall hinab, ließ uns warten, sehr lange. Dann kam er zurück
Weitere Kostenlose Bücher