Die Germanin
da war ihm schon klar, dass er seinen Gefangenen in diesem Jahr nicht mehr ausliefern konnte. Jetzt ist er ihm eher eine Last, denn der Winter ist lang, und er weiß, wir schlafen nicht, wir sind keine Bären und Hamster. Da glaubt er nun wohl, er kann sich Ärgernisse ersparen, indem er mit uns noch schnell einen Handel abschließt – den Heerführer gegen seine Tochter! Aber ich frage euch noch einmal: Was wird Arminius von uns halten, wenn er heimkehrt und wir, denen keine Gefahr mehr droht, haben zugelassen, dass sich seine Frau diesem verschlagenen Unhold, seinem Entführer, auslieferte!«
»Ich erlaube euch nicht, so über meinen Vater zu reden!«, rief Nelda und wollte wieder ihr Pferd besteigen.
»Und wir erlauben dir nicht mehr, den Wehrhof zu verlassen!«, fuhr Inguiomer sie an und riss sie zurück. »Tammo hat recht! Haben wir hier ein Heer versammelt und sehen uns nicht im Stande, unseren Heerführer zu befreien? Ich führe euch hin! Wir werden Segestes belagern, bis er klein beigibt! Und wehe ihm, wenn er es nicht tut. Dann gibt es Sturm – und dann wird er Staub fressen!«
Inguiomer und Tammo, die beiden Hitzköpfe, eilten hinaus auf die Wiese, gingen von Zelt zu Zelt, von Feuer zu Feuer und es kostete sie wenig Mühe, die Kämpfer für den Zug zum Segesteshof zu begeistern. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, marschierten die Heerhaufen ab.
Nelda stand reglos im offenen Tor und sah ihnen nach, bis der Letzte im Wald verschwunden war.
22
Mitternacht musste vorüber sein, als sich Arminius von der Schlafbank erhob und den Pelz, der ihm auch als Decke diente, über die Schultern warf. Im Dunkeln suchte er Hose und Stiefel.
Nelda richtete sich auf.
»Kannst du immer noch nicht schlafen?«
»Nein.«
»Hast du Schmerzen?«
»Nein, mach dir keine Gedanken. Schlaf weiter. Ich werde draußen ein bisschen auf und ab laufen, das macht müde. Muss aber erst einmal im Pferdestall nach dem Rechten sehen. Der Braune lahmt, hoffentlich wird die Entzündung an der Fessel nicht brandig.«
Sie hatten allein ihre Schlafplätze an der Giebelwand. An den Längswänden der Wohnhalle lagen ein paar ältere Verwandte des Gaufürsten, Männer des Gefolges, Knechte und Mägde. Keiner erwachte, als Arminius zum Herd ging, ein wenig die Glut schürte und eine Fackel entzündete. Nur ein Hund, der dort zusammengerollt gelegen hatte, stand auf, schüttelte sich und trottete hinter ihm hinaus.
Nelda konnte diesmal nicht wieder einschlafen. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Er schlief kaum, erhob sich immer wieder vom Lager, stapfte draußen in der eisigen Kälte durch den Schnee. Tagsüber brütete er vor sich hin und antwortete kaum, wenn er angesprochen wurde. Er litt noch immer an der Schulterwunde, die ihm der Dolchstoß eines der Entführer zugefügt hatte. Aber das konnte nicht die Ursache sein.
So war er seit seiner Rückkehr vom Segesteshof. Immer wieder hatte sie versucht zu erfahren, wie es ihm dort ergangen war. Er hatte nur die allernötigsten Auskünfte erteilt. Die Schuld an dem, was ihm geschehen war, gab er sich selbst. Seine eigene strenge Regel, immer und überall wachsam zu sein, hatte er sträflich missachtet. Von irgendeinem Jagdknecht, den er niemals zuvor gesehen hatte und an dessen Gesicht er sich nicht mehr erinnerte, hatte er sich leichtfertig in eine Falle locken lassen.
Wie glücklich war sie an jenem Herbsttag vor zwei Monaten gewesen, als er am Tor stand und sie sich ihm in die Arme warf – und wie enttäuscht, weil er ihre Freude nicht teilte. Mit düsterer Miene, nur ab und zu gequält lächelnd, hatte er unter den Männern gesessen, die fröhlich tranken und sich ihres raschen Erfolges rühmten. Der Aufmarsch des vielköpfigen Heeres im Tal, am Fuße des Hügels mit dem Segesteshof, war schon der halbe Sieg gewesen. Ein paar Brände, über den Wall geworfen, und die Drohung, man werde den Hof erstürmen und dort wüten wie seine römischen Freunde unter den Marsern, hatten Segestes schnell überzeugt, dass es besser war einzulenken. Kurz darauf am selben Tag war Arminius frei.
Von Inguiomer hatte Nelda erfahren, dass es danach im Heer fast zu einem Aufruhr gekommen wäre. Viele hatten erwartet, ihr Heerführer würde sie nun zum Sturm auf den Wehrhof seines Entführers und unversöhnlichen Widersachers aufrufen. Andere hatten gedacht, er werde sich ohne zu zögern an die Spitze eines Rachefeldzugs gegen die Römer setzen und deren neue Stützpunkte auf der
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