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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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Schmachlibell! Denk, zu wem du sie redest, deine aufrührerischen Wort, daß d’ jung unreif Volk vor dir hast, zumal einen Candidatum theologiae, der über ein kleines die heiligen Glaubenssätz unserer hohen Kirche wird beschwören müssen!“
    Der andere lachte grimmig: „Grad zu ihnen hab’ ich gesprochen, Bruder, grad zu den Jungen und zu Rudolf zuerst. Dir brauch’ ich nicht davon zu reden, hast deine eigene Meinung und weißt deine Sach so gut wie ich. Aber die Jungen, die Jungen! Sollen sie im alten schleimigen Fahrwasser weiterschwimmen und den betrübten Geist dieses verlebten und versärbelten Jahrhunderts in das neue hinübertragen und also einen Leichnam in eine Wiege legen? Schau dir den Rudi an! Das vorspringend Kinn hat das Zwingliblut in den Waserstamm hereingebracht; sollt’ er mit dem kostbarlichen Tropfen nicht auch noch ein Brösemlein Zwingligeist bekommen haben? Und das Meiti, die Anna, paßt die mit ihren klaren Augen, verstandsamem Kopf und kunstreichen Händen etwan in das Spinnwebgehäus des sterbenden Säkuli? Sollen deshalb, weil wir Alten uns nimmer bekeimen können, nun auch die jungen Keimlein, solche sich allenthalben schüchtern herfürwagen, erstickt werden unter dem alten Unrat?“
    „Mit nichten,“ erwiderte der Amtmann, der, ruhiger geworden, seinen alten Sitz am Tisch wieder einnahm. „Mit nichten, Bruder; aber junge Keim müssen Zeit haben, so sie sich gedeihlich entwickeln sollen. Kommt nun einer und zupft daran und bringt künstliche Wärme hinzu und unzeitig Licht nächtlicherweis aus lauter Ungeduld, weil er den Frühling nimmer zu schauen fürchtet und nun im Herbst noch die jungen Pflänzchen sehn möcht’ — sieh, wie schwächlich sie aufgehn, wie erbarmungswürdig sie sterben, und im Haustagen steht das Feld leer. Ich“— er hielt einen Augenblick inne und setzte dann mit eigentümlich blasser Stimme hinzu — „ich hab’s schon einmal gesehn, dieses unzeitige Aufgehen und Sterben — an meinem Buben möcht’ ich’s nicht auch noch erleben.“
    Ein weher Ton, bang und zitternd, fast wie der Schrei einer Möwe, die am grauen Wintertag einsam zwischen Nebel und Wasser kreist, durchschnitt die plötzliche Stille. Maria, deren Spinnrad lange schwieg, stand mitten im Zimmer. Einen Augenblick sahen alle erschreckt in ihr schneeweißes Gesicht mit den weißen wehen Lippen und den wehen übergroßen Augen, dann stürzte sie hinaus.
    Die Amtmännin blickte sich hilflos um und griff mit bebenden Händen an ihre Schläfen: „Die Maria, das arm, arm Kind, wenn nur nichts geschieht!“
    „Nein, Mutter,“ sagte Anna einfach und erhob sich, „seid getrost, ich gehe zu ihr.“
    Nach kurzer Zeit kam sie zurück: „Sie ist wieder ruhig und läßt abbitten, wenn sie nimmer kommt zum Abendsegen. Sie hat geweint, und nun mußt’ ich ihr das Alt Testament geben. Da liest sie ihren CIII. Psalm, und das hoch Lied von der Göttlichen Erbarmung und menschlichen Nichtigkeit ist ihr Arzenei und besser denn alle unsere Trostworte.“
    Der Fähndrich klopfte die Pfeife aus, mit einem betrübten, ein wenig verlegenen Gesicht. „Saker Hagel, das hab’ ich nicht gewollt, das arm Kind erschrecken!“ Er sah nachdenklich vor sich hin: „Hast am Ende recht, Bruder, reifen lassen … Ja, wann man das könnt’! Warst halt immer der Fürsichtigere und Weisere, trotzdem der Jünger bist. Ich, wann mir die schlimmen Ding zu Sinn kommen, da reißt’s mich immer wieder fort und mein’, ich muss’ den andern die Nase draufstoßen, wann sie’s nicht selber sehen, und ihnen die Fenster aufreißen und die jungen Kräft anspornen, daß sie nicht ungenützt verlampen. Heut, als ich am neuen Rathaus vorbeikam, da hat’s mich wieder mal gepackt. Das Gerüst nehmen sie weg, und da kommen nun die schönen steinernen Köpf herfür, einer nach dem andern, die sie auffigürt haben auf dem stolzen welschen Bau. Ist gar ein fürnehm Schauen, die alten griechisch und römischen Helden und dazwischen ihre helvetisch und zürcherischen Brüder und jeder mit einem schönen lateinischen Sätzlein ausstaffiert! Da ist mir aber aufgestoßen, wie schlecht die Taffere zum Geschäft paßt und die Büchse zum Inhalt: Hängen Heldenhäupter heraus und große, vieldeutende Sprüch, herinnen aber armselige Perückenköpf, die lieber Weibermoden studieren denn tüchtig Mannswort, lieber Kleidermandat fabrizieren und Glaubenssätz denn eine vernünftige legislationem. Kein Gehirn nicht, Spürnasen bloß und

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