Die Geschichte der Deutschen
vage, aber auf ein eher autoritäres Staatssystem statt auf eine Demokratie ausgerichtet.
Es hat natürlich auch viele unbekannte Menschen gegeben, die sich in den Jahren des Dritten Reiches anständig benommen haben. Sie versuchten als Behördenangestellte, als Polizeibeamte oder als Vorgesetzte ihren bedrohten und verfolgten Mitbürgern zu helfen, die verbrecherischen Vorschriften des Staates zu unterlaufen. Mancher deutscher Jude ist von seinen Nachbarn oder von Freunden versteckt und damit vor dem Tod bewahrt worden. Aber wir müssen uns der bitteren Erkenntnis stellen, dass dies nur eine kleine Minderheit gewesen ist. Eine bedeutende Mehrheit der Deutschen erwies sich als Mitläufer einer verbrecherischen Diktatur. Auch die Zahl der Täter war erheblich größer, als wir es uns nach dem Krieg eingestanden haben. Nicht nur Hitler und der Führungsstab der Partei, nicht nur die SS oder die Gestapo haben Krieg und Massenmord zu verantworten. In den Schulen, in den Amtsstuben, in den Zeitungsredaktionen oder auf den Theaterbühnen handelten unzählige Menschen als willige Befehlsempfänger. Es waren Beamte der Eisenbahn, die die Fahrpläne für den Transport der Juden in die Vernichtungslager aufstellten. Es waren Richter, die die Todesurteile für Tausende von Menschen fällten. Es waren Geschäftsleute oder Konzernmanager, die sich bei der Arisierung jüdischer Betriebe bereicherten. Es waren ganz normale Bürger, die bei den Versteigerungen der Möbel von verschleppten oder geflohenen Juden durch die Finanzämter auf »Schnäppchenjagd« gingen. Es waren Lehrer, die den Schülern vom »slawischen oder jüdischen Untermenschen« erzählten. Es waren Universitätsprofessoren, die die Geschichte in ihren Büchern verfälschten und die Lehre von den Rassen »wissenschaftlich« begründeten. Sie alle haben genau gewusst, was sie tun! Die Ausrede, man sei verführt worden, die Nazis hätten den Idealismus der Menschen missbraucht, erweist sich bei genauerem Hinsehen als überaus durchsichtig. Wie kann man dazu verführt werden, schweigend zuzusehen oder aktiv mitzuhandeln, wenn Menschen nur aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Herkunft in Konzentrationslager verschickt werden, und sich zudem noch an ihren Gütern bereichern? Was hat es mit Idealismus zu tun, wenn andersdenkende Nachbarn verschleppt, gefoltert und ermordet werden? Hitler hat die »Endlösung der Judenfrage« nicht jeden Tag öffentlich angekündigt. Er und seine Helfershelfer wussten, dass die Diskriminierung und Isolierung der jüdischen Mitbürger für viele Deutsche der Punkt war, an dem es ihnen am schwersten fiel, den Nationalsozialisten begeistert |253| zu folgen. Aber sie haben es hingenommen und so heimlich, wie wir es dann darstellten, ging die Verfolgung der Juden nicht vor sich. Jeden Tag verkündete das Regime in den Zeitungen, welche Schritte es sich hatte wieder einfallen lassen. Die »Nürnberger Gesetze« kannte wohl jeder Deutsche, der des Lesens mächtig war.
Es leben nicht mehr allzu viele Menschen, die das Dritte Reich als Erwachsene miterlebt haben. Ihre Enkel reisen durch die Welt und sie reagieren häufig unwillig und gereizt, wenn ihnen von gleichaltrigen Engländern, Franzosen, Holländern oder anderen die Verbrechen der Nazis vorgehalten werden. Keiner, der im Dritten Reich noch ein Kind war, keiner, der erst nach dieser Schreckenszeit geboren wurde, trägt jedoch eine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Aber es gibt eine Verantwortung dafür, dass sich niemals wiederholt, was damals geschah. Wer dieser Verantwortung gerecht werden will, darf nicht leugnen, verschweigen oder beschönigen. Übrigens auch nicht selbstmitleidig darüber jammern, dass er sich gelegentlich der Vergangenheit seines Volkes stellen muss. Jedes Volk hat an seiner Geschichte zu tragen. Die Engländer müssen auf eine Kolonialpolitik zurückblicken, durch die zahlreiche Völker unterdrückt und ausgebeutet worden sind. Frankreich hat in Algerien einen schrecklichen Krieg geführt. Die amerikanischen Siedler haben die indianische Urbevölkerung umgebracht, vertrieben und in Reservate gedrängt. Die kommunistischen Führungen in der Sowjetunion oder in den osteuropäischen Staaten haben Millionen ihrer Bürger in Lagern verkommen oder ermorden lassen. Aber wer mit solchen Hinweisen die Untaten des eigenen Volkes relativieren will, hat nichts verstanden und nichts gelernt. Der Holocaust ist beispiellos geblieben. Er lässt sich nicht einfach
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