Die Geschichte der Deutschen
einem Doppelkönigtum. Es weist auf Uneinigkeit und Machtkämpfe im Gremium der Kurfürsten hin. Reichskrisen und eine weitere Schwächung des Königtums sind die Folgen. Schon 1254 taucht der Begriff »Heiliges Römisches Reich« auf. Darin spiegelt sich ein weiteres Mal die Verbindung von Christentum und Antike wider. Wie ihre Vorgänger sehen sich die deutschen Könige des Spätmittelalters als Beschützer der Kirche und in der Nachfolge des Römischen Imperiums. Obwohl das Reichsgebiet mit wechselnden Grenzverläufen auch romanische und slawische Territorien umfasst, wird ab dem 15. Jahrhundert der Zusatz »Deutscher Nation« angefügt. Die Deutschen betonen damit ausdrücklich ihren nationalen Anspruch auf die Herrschaft über das Imperium. Bis zum Jahre 1806 wird der Name »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« seine Gültigkeit besitzen.
All diese Entwicklungen des Spätmittelalters formen das spätere Deutschland. Im Reich herrscht bis zum Zusammenbruch der Machtbastionen des Adels und der Kirche nur eine kleine politische Gruppe. König und Kurfürsten, bis zu einem gewissen Grad auch noch die Päpste entscheiden über Deutschlands politisches Schicksal. Diese Macht der ganz Wenigen wird die deutsche Geschichte bestimmen. Das unterscheidet die sich langsam bildende Nation von ihren großen Nachbarn England und Frankreich.
Deutschland bleibt politisch ein starres Land. Mitsprache für den unteren Adel oder das aufkommende Bürgertum gibt es nur in ganz beschränktem Ausmaß. Die Masse der Bauern, der städtischen Arbeiter und Handwerker bleibt vollends ohne Einfluss auf die Entscheidungen des Reiches oder des Herrschaftsgebietes, in dem sie leben. In England oder Frankreich herrscht natürlich gemessen an der Masse der Bevölkerung ebenfalls nur eine kleine Schicht. Aber es gibt in England immerhin schon 1215 die »Magna Charta«, in der König Johann seinen Baronen Kirchenfreiheit, die Kontrolle der königlichen Gerichtsbarkeit wie überhaupt der königlichen Gewalt zugestehen muss. Und Frankreich gewinnt sein Selbstbewusstsein durch ein Zentrum des Königtums, das in Paris liegt.
|62| In der Mitte des 14. Jahrhunderts erleben die Europäer eine furchtbare Heimsuchung. Die Pest wütet fünf Jahre lang und ihr erliegt etwa ein Drittel der Bevölkerung. Ganze Landstriche und Städte werden entvölkert. Durch die Straßen ziehen die Pestkarren, auf denen Leichenberge liegen. Sie werden vor den Stadttoren in Massengräbern verscharrt. Die Häuser, in denen die Kranken unter schrecklichen Schmerzen leiden und vielfach dahinsterben, stehen unter Quarantäne. An den Leisten-, Achsel- und Halsdrüsen der Infizierten bilden sich schwarze Ausformungen. Die Beulenpest muss nicht immer tödlich sein. Die Lungenpest aber ist es mit hundertprozentiger Sicherheit. Aus dem Orient bringen die Handelsschiffe den Schwarzen Tod über das Mittelmeer nach Italien und von dort aus überrollt er den Kontinent. Die Pesterreger werden in der Regel durch Bisse von Rattenflöhen oder durch Tropfeninfektion von Mensch zu Mensch übertragen.
Bußprediger machen das sündige Leben für diese Strafe Gottes verantwortlich. Die herbeigerufenen Pestärzte sind ebenso hilflos wie die städtischen Obrigkeiten, die das große Sterben mit ihren Anordnungen nicht aufhalten können. Da die Menschen nicht wissen, woher die Krankheit kommt, machen sie die Juden für ihr Leiden verantwortlich. Sie hätten die Brunnen der christlichen Gemeinden vergiftet, behaupten viele Prediger und die Judenhasser hetzen ihre Mitbürger auf. Sie stürmen die Häuser der Juden, schlagen Männer, Frauen und Kinder tot. Wer Glück hat, kann noch rechtzeitig vor dem Pöbel fliehen.
Die Folgen der Großen Pest von 1347 sind für das Spätmittelalter weitreichend. Zumal große Hungersnöte, Heuschreckenplagen und einige Erdbeben die Lage noch weiter verdüstern. Diese Katastrophen und der massenhafte Pesttod lösen eine Wirtschaftskrise aus, die bis weit in das 15. Jahrhundert hinein ihre düsteren Schatten auch über Deutschland wirft. Die Felder verwildern, die Landschaften veröden, die Zahl der Siedlungen sinkt und der Handel geht deutlich zurück. Armut und Pessimismus machen sich breit.
In zahlreichen Regionen Europas erleben die Juden im Spätmittelalter Verfolgung und Vertreibung. Unter König Ferdinand I., der die letzten arabischen Stützpunkte auf der Iberischen Halbinsel zurückerobert, beginnt 1492 die Vertreibung der spanischen und bald auch der
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