Die Geschichte der Deutschen
steuert er auf das Ziel einer kleindeutschen Reichslösung zu. Kleindeutsch heißt: Ein von Preußen geführtes Deutsches Reich ohne Österreich. Eine solche Reichsgründung verändert das Mächtegleichgewicht in Europa. Es geht jetzt also nicht mehr allein um Entscheidungen in den deutschen Ländern, sondern Bismarck muss damit rechnen |160| , dass bald auch in Paris, London und Petersburg alle Alarmglocken klingeln.
Entscheidend ist der unmittelbare Nachbar im Westen: Frankreich. Hier hat sich ein Neffe Napoleons I. an die Spitze des Staates geputscht. Im Dezember 1848 gewinnt er in der II. Republik zunächst die ersten Präsidentenwahlen, um dann drei Jahre später seine Stellung durch einen Staatsstreich zu sichern. 1852 lässt er sich durch eine Volksabstimmung als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen krönen. Paris erlebt unter seiner Regierung eine neue, in ganz Europa bewunderte Glanzzeit. Der Präfekt der Hauptstadt, Georges Haussmann, lässt die historische Altstadt abreißen und die breiten, prächtigen Boulevards errichten, die Paris heute noch auszeichnen. Die Weltausstellung von 1867 gerät zum Triumph imperialer Machtentfaltung, die sich in den für dieses Ereignis gebauten Ausstellungspalästen und Industriepavillons widerspiegelt. Das Theaterpublikum ist von den Operetten- und Singspielmelodien des aus Deutschland eingewanderten Jacques Offenbach hingerissen, der Cancan erobert die bürgerlichen Ballsäle und die Arbeiterkneipen. Die Maler entdecken den Impressionismus. Paris ist in den sechziger Jahren die laute, morbide und schöne Hauptstadt Europas.
Napoleon III. ist politisch ehrgeizig wie sein berühmter Onkel. Und er ahnt, dass er in den Augen seiner Landsleute nur bestehen kann, wenn er ihren nationalen Ehrgeiz befriedigt. Kaum ein Konflikt in Europa, in den er sich nicht einmischt. Das gilt für den Krim-Krieg ebenso wie für die Auseinandersetzungen zwischen Österreich und Italien. Er gewinnt Nizza und Savoyen für Frankreich, schickt eine Expedition nach Senegal, beginnt mit der Eroberung Vietnams, unterstützt den Bau des Suez-Kanals und interveniert im mexikanischen Bürgerkrieg auf der Seite des unglücklichen Kaisers Maximilian, den die Aufständischen nach seiner Gefangennahme erschießen. Zunächst lassen sich die Franzosen vom schönen Schein des neuen Kaiserreiches blenden. Aber Napoleon überfordert das Land. Der Neuaufbau von Paris kostet ein Vermögen, die militärischen Abenteuer belasten die Staatskasse, und es häufen sich die außenpolitischen Rückschläge. Börsenskandale erschüttern das neureiche Großbürgertum. Sie schaden auch dem Ansehen des Kaiserhauses.
Und jetzt auch noch Bismarck. Frankreichs Nationalisten haben auf den Sieg Berlins im Krieg gegen Österreich mit preußenfeindlichen Parolen reagiert. Sie sehen darin – nicht zu Unrecht – eine Verschiebung des europäischen Mächteverhältnisses zugunsten Preußens. »Rache für Sadowa (Königgrätz)« schwören die Politiker in ihren Parlamentsreden und die Journalisten in ihren Zeitungsartikeln. |161| Frankreich verlangt einen territorialen Zugewinn als Ausgleich. Das Großherzogtum Luxemburg soll es sein, eine Bundesfestung, in der eine preußische Garnison liegt. Bismarck lässt in Paris den Eindruck entstehen, Berlin habe nichts gegen eine Abtretung einzuwenden. Aber Frankreich müsse direkt mit den Niederlanden verhandeln, die mit Luxemburg in Personalunion verbunden sind. Gleichzeitig verkündet der preußische Ministerpräsident ein Schutzbündnis mit den süddeutschen Staaten und lässt die Presse Hetzartikel gegen die Franzosen veröffentlichen. Er selbst hält im Norddeutschen Reichstag ebenfalls wohl kalkulierte antifranzösische Reden. Der Konflikt wird in einer Londoner Konferenz beigelegt, Luxemburg erhält einen neutralen Status und Berlin muss seine Truppen abziehen.
Frankreich fühlt sich erneut von Preußen übertölpelt und in seiner nationalen Ehre getroffen. Jedenfalls liest es sich so in den Pariser Zeitungen. Die Unzufriedenheit in den französischen Parteien und in der Öffentlichkeit wächst. Wo immer über die politische Lage diskutiert wird, ist die Befürchtung zu hören und zu lesen, es müsse etwas getan werden, um den Niedergang des internationalen Ansehens aufzuhalten. Da Parlamentswahlen vor der Tür stehen, entwickelt sich eine nervöse und gereizte Atmosphäre. Das Militär, durch die Ausrüstung mit neuen, modernen Infanteriegewehren selbstbewusster geworden, dringt
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