Die Geschichte Der Kinder Hurins. Sonderausgabe.
Durch einen glücklichen Zufall fand er den schmalen Pfad, den Turambar benutzt hatte, und da er vom ausgetretenen Weg abzweigte und in südlicher Richtung steil zum Fluss hinabführte, konnte Brandir wieder zu ihr aufschließen. Doch sie achtete nicht auf seine Rufe oder hörte sie nicht, und bald hatte sie wiederum einen Vorsprung. Und so näherten sie sich den Wäldern an der Cabed-en-Aras und dem Schauplatz von Glaurungs Todeskampf.
Der Mond zog am wolkenlosen südlichen Himmel seine Bahn, und sein Licht war kalt und klar. Als Níniel an denRand der Verwüstung kam, die Glaurung angerichtet hatte, sah sie dort den Körper des Drachen liegen und seinen grauen Bauch im Mondschein; neben ihm jedoch lag ein Mann. Da vergaß sie ihre Furcht, rannte mitten durch die schwelenden Trümmer und kam so zu Turambar. Er war auf die Seite gefallen, und sein Schwert lag unter ihm, doch sein Gesicht war im weißen Licht totenbleich. Da warf sie sich weinend bei ihm nieder und küsste ihn. Ihr war, als atme er schwach, doch sie dachte, es sei nur ein Trugbild falscher Hoffnung, denn er war kalt und bewegte sich nicht, und er antwortete auch nicht. Als sie ihn liebkoste, bemerkte sie, dass seine Hand geschwärzt war, als sei sie versengt, und sie wusch sie mit ihren Tränen und verband sie mit einem Streifen von ihrem Kleid. Und immer noch regte er sich nicht, und sie küsste ihn erneut und rief laut: »Turambar, Turambar, komm zurück! Höre mich! Wach auf! Níniel ist hier. Der Drache ist tot, tot, und ich allein bin hier bei dir.« Doch er gab keine Antwort. Brandir hörte ihr Rufen, denn er hatte den Rand der Lichtung erreicht. Doch während er auf Níniel zuging, hielt er inne und stand still. Denn Glaurung, geweckt durch Níniels Aufschrei, regte sich ein letztes Mal, und ein Zittern lief durch seinen ganzen Körper. Und er öffnete seine unheilvollen Augen einen Spaltbreit, und das Mondlicht schimmerte in ihnen, als er keuchend sagte:
»Sei gegrüßt, Nienor, Húrins Tochter. So sehen wir uns wieder vor dem Ende. Dir gönn ich’s, dass du endlich deinen Bruder gefunden hast. Und nun lerne ihn kennen: ein Meuchler im Dunkeln, ein hinterlistiger Feind, ein treuloser Freund und ein Fluch für seine Sippe – Túrin, Húrins Sohn! Die schlimmste von allen Taten aber spüre du im eigenen Leibe!«
Nienor saß da wie betäubt, aber Glaurung starb. Und mit seinem Tod fiel der Schleier seiner Tücke von ihr, und ihre ganze Erinnerung lag klar vor ihr, von jedem einzelnen Tag, und sie hatte auch nichts von all dem vergessen, was geschehen war, seit sie auf dem Haudh-en-Elleth gelegen hatte. Ihr ganzer Körper schüttelte sich vor Entsetzen und Seelenqual. Brandir aber, der alles mit angehört hatte, war im Innersten getroffen und musste sich an einen Baum lehnen.
Da sprang Nienor plötzlich auf die Füße und stand fahl wie ein Gespenst im Mondlicht, und auf Túrin niederblickend rief sie: »Lebwohl, du zweifach Geliebter! A Túrin Turambar turún’ ambartanen: Meister des Schicksals, vom Schicksal gemeistert! O Glück, tot zu sein!« Und von Grauen und Schmerz überwältigt, verließ sie jenen Ort in wilder Flucht, und Brandir stolperte hinter ihr her und schrie: »Warte! Warte, Níniel!«
Einen Augenblick hielt sie inne und sah starren Blickes zurück. »Warten?«, schrie sie. »Das war immer dein Rat. Hätte ich ihn nur befolgt! Aber nun ist es zu spät. Und jetzt will ich in Mittelerde nicht länger warten.« Und sie rannte von ihm fort.
Alsbald kam sie zum Rand der Cabed-en-Aras, und dort stand sie, blickte in das tosende Wasser und rief: »Wasser, Wasser! Nimm nun Níniel Nienor, die Tochter Húrins, zu dir; nimm Trauer, die Tochter Morwens! Nimm mich und trage mich zum Meer!«
Mit diesen Worten warf sie sich über den Rand: ein weißes Aufblitzen, das der dunkle Abgrund verschlang; ein Schrei, verloren im Brausen des Flusses.
Die Wasser des Teiglin flossen weiter, doch die Cabed-en-Aras gab es nicht mehr: Von jetzt an wurde sie von den Menschen Cabed Naeramarth, der Sprung des Entsetzlichen Schicksals, genannt. Kein Hirsch übersprang sie mehr, alle Lebewesen mieden sie, und kein Mensch ging an ihrem Ufer entlang. Der letzte Mensch, der in ihre Dunkelheit hinabblickte, war Brandir, Handirs Sohn, und voll Entsetzen wandte er sich ab. Denn sein Herz verzagte, und wenn er sein Leben jetzt auch hasste, brachte er es doch nicht über sich, den ersehnten Tod an diesem Ort zu suchen. Dann kehrten seine Gedanken zu Túrin
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