Die Geschichte eines Sommers
Willadee nicht mehr zu hören waren, und sahen ihnen hinterher, bis sie im Haus verschwanden. Dann hielten sie Ausschau nach Blade.
In ihrem Schlafzimmer hatte Calla Moses ebenfalls ihren Beobachtungsposten eingenommen. Sie hatte ihren Schaukelstuhl ans Fenster geschoben und die Gardinen zurückgezogen, damit sie ungehindert hinausschauen konnte. Wenn der Junge auftauchte, wollte sie ihn sehen. Wollte beobachten, wie er seine Beute in die Scheune schleppte und dort zu seiner riesigen Überraschung auf die anderen Kinder traf, die ihn willkommen hießen. Von ihrem Platz aus würde sie zwar nicht alles sehen können, doch sie wollte so viel mitbekommen wie möglich und sich den Rest vorstellen.
Ihr ganzes Leben lang war sie eine nüchtern denkende Frau gewesen. Calla Moses hatte nie etwas für Unsinn übriggehabt, aber in letzter Zeit war etwas mit ihr geschehen. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie den ganzen Tag die Kinder um sich hatte, die spielten und herumalberten. Oder an dem Pferd, das plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war und bis auf die Striemen auf seinem Rücken wie ein Wesen aus dem Märchen ausgesehen hatte. Und dann war dieser Junge mit den nachtschwarzen Augen gekommen und hatte sämtliche Herzen erobert.
Woran auch immer es lag, Callas Fantasie war aus einem langen Schlaf erwacht. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass die Luft voller Zauber und wundersamer Dinge war, die nur darauf warteten zu geschehen. Eigentlich glaubte sie nicht an so etwas, und trotzdem konnte sie das Gefühl nicht von sich weisen.
Willadee und Samuel hielten vom Wohnzimmer aus nach Blade Ausschau, da die Fenster ihres Schlafzimmers auf die falsche Hofseite hinausgingen. Von dort hätten sie nur sehen können, wie die Autos vor dem »Never Closes« parkten und irgendwann wieder wegfuhren. Und auch von der Küche aus hätten sie das Ganze schlecht beobachten können, weil sie hofften, dass Blade Ballenger dort als Erstes hingehen würde, wenn er kam.
Falls er denn kam.
Während sie warteten, unterhielten sie sich über andere Dinge. Zum Beispiel darüber, dass schon bald das neue Schuljahr anfangen würde und die Kinder allmählich aus ihren Sachen herauswuchsen. Zum Glück konnte Willadee nähen und Schnittmuster auf Zeitungspapier zeichnen, die genauso gut waren wie die gekaufter Sachen. Die Kleider, die sie bisher für Swan genäht hatte, waren immer schöner gewesen als die aus dem Laden. Sicherlich könnte sie auch Hemden für die Jungen nähen, was sogar schneller gehen müsste als ein Kleid für ein Mädchen, weil ein Hemd nicht so aufwändig war. Man wollte einem Jungen ja nicht das Leben schwermachen, indem man ihn mit einem Hemd zur Schule schickte, das mit Kreuzstich verziert oder gesmokt war.
Irgendwann in der Nacht legten sie sich komplett angezogen auf Callas Sofa schlafen. Nur die Schuhe hatten sie ausgezogen. Sie machten sich mehr Sorgen, als sie es irgendjemandem, außer einander, eingestanden hätten.
Bernice hielt als Einzige nicht nach Blade Ausschau, sondern betrachtete sich selbst endlos lange im Spiegel. Sie saß an dem kleinen Frisiertisch in ihrem Schlafzimmer, bürstete sich die Haare über ihre nackten Schultern und betrachtete den Verlauf ihrer Wangen und die Vertiefung unten an ihrem Hals zwischen den Schulterknochen. Dann stand sie auf, streckte die Arme und betrachtete ihren Körper im Spiegel. Am liebsten hätte sie angefangen zu heulen, weil jeder Zentimeter an ihr so perfekt und doch alles umsonst war.
Toy Moses verließ in dieser Nacht häufig das »Never Closes« und ließ die Stammgäste auf Vertrauensbasis trinken. Die Gäste nahmen sich einen Drink und notierten ihn in Johns altem, zerfleddertem Notizbuch, das Toy weiterführte. Niemand fragte ihn, warum er ständig nach draußen ging und im Dunkeln herumstand, und von sich aus gab Toy sowieso keine Erklärung ab. Die beiden besten Dinge am »Never Closes« waren, dass niemand einem anderen eine Erklärung schuldig war und man sich trotzdem umeinander kümmerte.
Ein halbes Dutzend Mal ging Toy um den Hof herum und schlich sich in die Scheune, um nach den Kindern zu sehen. Dort war zwar immer alles in Ordnung, doch auch als er das letzte Mal kurz vor Morgengrauen nach ihnen sah, waren sie immer noch zu dritt.
Blade hatte sich nie viele Gedanken über Mäuse gemacht, doch jetzt musste er ständig an sie denken. Sein Daddy hatte ihm mal gesagt, dass der Raum voller Mäuse sein könnte, die sich durch Wände hindurchknabbern
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