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Die Geschichte von Liebe und Sex

Titel: Die Geschichte von Liebe und Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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Interviews für das Buch fanden 1990 in Warschau statt.

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|150| Ein Zwischenspiel: Frühling in Moskau und Weimar
    Noch bevor der deutsche Kaiser 1918 abdankt, kommt es in Russland zur Revolution. Zar Nikolaus II. (1868 – 1918) muss abdanken, und im Oktober 1917 übernehmen die kommunistischen Räte (Sowjets) unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1924) die Macht. Das neue Riesenreich der Sowjetunion zu vereinen verläuft mit vielen blutigen Konflikten. Gewalt wird sowohl gegen politische Gegner als auch Verdächtige in den eigenen Reihen angewandt. Die gesamte Zarenfamilie wird im Juli 1918 ermordet.
    Und doch werden einige fortschrittliche Gesetze verabschiedet, die Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit zwischen Frau und Mann und sexuelle Freiheiten machen: Frauen erhalten nicht nur das Wahlrecht, sondern werden in allen Bereichen den Männern gleichgestellt. Abtreibung wird legalisiert und auch Homosexualität nicht mehr unter Strafe gestellt. Ehe- und Scheidungsgesetze werden modernisiert und achten sowohl die Rechte von Frau und Mann als auch von möglichen Kindern. Lenins Lebensgefährtin Inessa Armand (1874 – 1920) spricht sich für freie Liebe ohne Trauschein aus, während der im Privaten eher traditionelle Lenin dies als anarchistisch ablehnt. Beide hängen sie den radikalen Theorien der Deutschen Karl Marx (1818 – 1883) und Friedrich Engels (1820 – 95) an, die fordern, dass das Kapital nicht mehr einzelnen Privatleuten gehören soll, sondern vom Staat kontrolliert und jeder Gewinn gerecht an die arbeitende Bevölkerung verteilt werden soll.
    Friedrich Engels, 64 Jahre, kritisiert die bürgerliche Ehe 1884 so * :
    »So tritt die Einzelehe keineswegs ein in die Geschichte als die Versöhnung von Mann und Weib, noch viel weniger als ihre höchste Form. Im Gegenteil. Sie tritt auf als Unterjochung des einen Geschlechts durch das andre, als Proklamation |151| eines bisher in der ganzen Vorgeschichte unbekannten Widerstreits der Geschlechter. In einem alten, 1846 von Marx und mir ausgearbeiteten, ungedruckten Manuskript finde ich: ›Die erste Teilung der Arbeit ist die von Mann und Weib zur Kinderzeugung.‹«
    Viele Träume von einer gerechten »klassenlosen« Gesellschaft werden zerstört, als Josef Stalin (1879 – 1953) nach Lenins Tod ab 1924 die Macht übernimmt und zum Diktator wird. Durch die Geheimpolizei und in Schauprozessen werden nicht nur zahllose politische Gegner ermordet oder zum Tode verurteilt, auch die Privatsphäre des einzelnen Bürgers wird streng überwacht: 1933 wird Homosexualität erneut verboten, ab 1935 erotische und pornographische Literatur vernichtet und 1936 Abtreibung wieder unter Strafe gestellt.
    Nicht wenige Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle sind jedoch vom Anfang der jungen Sowjetunion inspiriert und träumen davon, dass nach der erzwungenen Abdankung des Kaisers 1918 auch ein Frühling in Deutschland beginnen möge.
    Der Journalist und Schauspieler Frank Wedekind (1864 – 1918) protestiert mit seinem Theaterstück Frühlings Erwachen gegen die Unterdrückung jugendlicher Sexualität und die prüde Verlogenheit der Kaiserzeit
    Zuerst 1891 veröffentlicht, kommt das Theaterstück erst 1906 in Berlin zur Uraufführung. Sowohl das Buch als auch das Theaterstück werden bis 1918 mehrfach verboten, Frank Wedekind selbst wird wegen »Majestätsbeleidigung« in einem seiner Gedichte zu drei Monaten Haft verurteilt. In Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie erzählt er die Geschichte der 15-jährigen Schulfreunde Melchior und Moritz und ihrer 14-jährigen Freundin Wendla: Ihre Unwissenheit über sexuelle Vorgänge bei gleichzeitig heftigen Sehnsüchten und Fantasien führt am Ende zum Tod von Wendla aufgrund einer gepfuschten Abtreibung und zum Selbstmord von Moritz, so jung, »ohne je Mensch gewesen zu sein«, ohne »das Menschlichste« – die körperliche Liebe – erfahren zu haben. Melchior bleibt allein zurück, verzweifelt, einsam und beschuldigt, für den Tod des Freundes verantwortlich zu sein, da er ihn über Sexualität aufzuklären versuchte. Er jedoch entscheidet sich |152| am Ende für das Leben. In bislang nie da gewesener Weise thematisiert Frank Wedekind Selbstbefriedigung, sexuelle Bestrafungsfantasien, Homosexualität und jugendliche Wissbegierde über Liebe und Sex. Er stirbt am Ende der Kaiserzeit mit 53 Jahren, ohne die Freiheiten der jungen Weimarer Republik erleben zu können.
    Der Dichter

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