Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Faschismus dem italienischen entlehnt hatte. Die Alte, die Puppe streichelnd, schrie: »Du Armer, du Großer, du hast gekämpft, du hast gelitten, du hast gesiegt.«
Gustav wandte die Augen ab von dem grotesken Schauspiel. Wie das ganze Reich, so hatte auch ihn die plötzliche Ernennung des Führers zum Kanzler überrascht. Nicht so überrascht wie den Führer selbst, aber verstanden hatte auch er die Ereignisse nicht. Warum hatte man gerade jetzt, da die völkische Bewegung im Abflauen war, einem Manne wie dem Verfasser des Buches »Mein Kampf« das höchste Amt des Reiches übertragen? Im Golfklub, im Theaterklub hatte manGustav auseinandergesetzt, es sei dabei keine große Gefahr; durch den Einfluß der gemäßigteren, vernünftigeren Kabinettsmitglieder sei der Führer lahmgelegt. Die ganze Aktion sei nur ein Scheinmanöver, um die aufbegehrenden Massen niederzuhalten. Gustav hörte das, glaubte es gern.
Mühlheim freilich hatte die Geschichte ernster aufgefaßt. Die herrschenden Besitzerschichten, die Großagrarier an ihrer Spitze, hatten jetzt in ihrer äußersten Not, um die Aufdeckung ihrer üppigen Subventionsskandale zu verhüten, die Barbaren zur Rettung herbeigerufen. Mühlheim glaubte nicht, daß man die, habe man sie einmal an den Trog gelassen, so bald wieder loswerde. Der sanguinische Herr hatte sich zu dem Satz verstiegen, die Zivilisation Mitteleuropas sei jetzt bedroht von einer Barbareninvasion, wie man sie seit der Völkerwanderung nicht mehr erlebt habe.
Gustav hatte für den Pessimismus seines Freundes nur ein Lächeln. Ein Volk, das diese Technik hervorgebracht hat, diese Industrie, fällt nicht von heut auf morgen in Barbarei. Und hat nicht jüngst einer ausgerechnet, daß allein die Werke Goethes im deutschen Sprachgebiet in mehr als hundert Millionen Exemplaren im Umlauf sind? Ein solches Volk hört nicht lange auf das Geschrei der Barbaren.
In den stillen Straßen des Villenviertels, in dem Gustav wohnte, hatte die Ernennung des Barbarenführers kaum etwas verändert. Jetzt, bei seiner ersten Fahrt in die Stadt, sah Gustav mit Unlust, wie die Barbaren sich breitmachten. Ihre Truppen beherrschten die Straßen. Die steife Neuheit ihrer braunen Uniformen, die noch nach der Schneiderwerkstatt rochen, ihr Gegrüße mit der antikischen Geste erinnerte ihn an die Statisterie kleinstädtischer Bühnen. An den Straßenecken hielten sie den Passanten Sammelbüchsen hin, für die Wahlpropaganda bestimmt. Er ließ das Wagenfenster nieder, um zu hören, was sie riefen. »Gebt für das Erwachende Deutschland, gebt für die Einbahnstraße nach Jerusalem«, hörte er. Gustav hat beim Militär gedient, war ein paar Monate im Feld gewesen. Es war die Energie Annas, die ihn seinerzeitvor weiteren Fronterlebnissen bewahrt hatte. Sein Militärdienst, diese sinnlose Unterwerfung unter den Willen anderer, war ihm die widerwärtigste Epoche seines Lebens. Er hatte sich bemüht, sie aus seinem Gedächtnis zu streichen, er wurde krank, wenn er daran dachte. Jetzt, beim Anblick der braunen Uniformen, stieg ihm die unwillkommene Erinnerung von neuem hoch.
Man war in der Gertraudtenstraße. Da stand das Stammhaus der Oppermanns, eingepreßt, altmodisch, solid. Auch hier, vor dem Hauptportal, bettelten uniformierte Völkische Passanten für ihre Wahlbüchsen an. »Für das Erwachende Deutschland, für den Führer, für die Einbahnstraße nach Jerusalem«, schrien sie mit ihren hellen Knabenstimmen. Starr, das Nußknackergesicht mit dem grauen, harten Schnurrbart unbewegt, stand der alte Portier Leschinsky. Er grüßte Gustav besonders mürrisch, drehte vor ihm die Drehtür mit besonders knapper Bewegung: angesichts dieser Lausejungen wollte er dem Seniorchef seine Ergebenheit eindringlich beweisen.
Im Chefkontor wartete man bereits auf Gustav. Jacques Lavendel war da, auch Frau Klara Lavendel, die Prokuristen Brieger und Hintze, nur Edgar fehlte. Gustav kam steifen, raschen Schrittes herein, mit ganzer Sohle auftretend, suchte unbekümmert zu erscheinen, strahlend wie stets. Wies auf die Kopie des Bildes von Immanuel Oppermann: »Ausgezeichnet, die Kopie. Ich glaube, du hast mir eine Kopie aufgehängt, Martin, und dir das Original behalten.« Allein nur der quicke Herr Brieger ging auf seinen fröhlichen, lärmenden Ton ein. »Das Geschäft geht ausgezeichnet, Dr. Oppermann«, sagte er. »Die Nazi richten sich jetzt groß ein, und wer sich einrichtet, braucht Möbel. Und wer liefert die Möbel für ihre Braunen
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