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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Erklärung, die Völkische abgaben, wenn sie Gegner überfallen und getötet hatten. In dem Prozeß gegen den Landsknecht, der den Republikaner niedergeschossen hatte, hatte nun der Mechaniker Pachnicke, als Zeuge vernommen, wahrheitsgemäß ausgesagt, die Hakenkreuzler hätten die Rauferei angefangen. Seine Aussage wie die aller andern, die das gleiche beschworen hatten, warübrigens nicht geglaubt und der Landsknecht freigesprochen worden. Aber den Pachnicke seinesteils hatten kurze Zeit nach dem Prozeß Hakenkreuzler nächtens überfallen und so übel zugerichtet, daß er in die Klinik verbracht werden mußte.
    »Sie sehen, lieber Oppermann«, sagte François, nachdem Gustav seine Erzählung beendet hatte, »es ist nicht ganz unbedenklich, sich in unserm Deutschland zu Wahrheit und Vernunft zu bekennen. Vielleicht beurteilen Sie es jetzt etwas weniger streng, daß ich Ihren Neffen vor den Erfahrungen des Mechanikers Pachnicke bewahren wollte.« – »Sie verallgemeinern unerlaubt, lieber François«, erwiderte ziemlich heftig Gustav. »Schließlich sind Sie, Ihre Lehrer und die Herren im Kultusministerium keine Landsknechte. Nein, nein, die weitaus meisten Deutschen sind Pachnickes, keine Hakenkreuzler. Mit ihrem ganzen Geld und Schmierenzauber haben die knapp ein Drittel der Bevölkerung dumm machen können. Bei so viel Aufwand ein erstaunlich dürftiges Resultat. Nein, lieber François, das Volk ist gut.«
    »Sagen Sie mir das oft und mit starken Worten«, erwiderte François. »Es ist wichtig, daß wir das glauben. Aber es fällt mir nicht ganz leicht, es immer zu glauben. Und jetzt, wenn Sie erlauben, genug davon. Ich habe in mir noch immer den Nachgeschmack jenes übeln Buches. Lassen Sie ihn uns wegspülen mit etwas Gutem.« Er kramte in den Büchern. Nahm einen Band Goethe heraus. Las lächelnd: »In unruhigen Zeiten wirft sich das Volk von einer Seite auf die andere wie ein Fieberkranker.« Sie badeten sich den Geist rein von der Lektüre der »Protokolle« und des Buches »Mein Kampf«.
    Es waren zwei gute Stunden. Ihr Unbehagen schwand. Eine Nation, die sich Jahrhunderte hindurch so intensiv mit Büchern befaßt hat wie denen, die hier standen, konnte sich nicht fangen lassen von Gestammel, wie es zu lesen war in den »Protokollen« und in dem Buche »Mein Kampf«. Es war überflüssige Vorsicht gewesen, daß Gustav den Rat Mühlheims befolgt hat, und François hatte keine Ursache, demAusgang des Falles Vogelsang mit Unsicherheit entgegenzusehen. Gustav hatte schon recht: der Durchschnitt dieses Volkes besteht aus Leuten wie dem Mechaniker Pachnicke, nicht aus jenem Pack, das den Landsknechten zuläuft. Sie bedachten die Äußerung des Sterbenden: »Wenn ich genau wüßte, daß alles noch mal so käme, ich würde trotzdem wieder so aussagen.« So, und nicht wie Herr Vogelsang, dachte dieses Volk. Es hielt zur Vernunft, es fiel nicht herein auf das verblasene Gerede des Führers. Heiter, in Ruhe und Zuversicht, scherzten sie, wie dieser Führer enden werde, ob als Ausrufer einer Jahrmarktsbude oder als Versicherungsagent.
    Am 30. Januar ernannte der Reichspräsident den Verfasser des Buches »Mein Kampf« zum Reichskanzler.

Zweites Buch
Heute

Die Deutschen haben die kulturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es gibt, auf dem Gewissen, den Nationalismus, diese névrose nationale, an der Europa krank ist: sie haben Europa um seinen Sinn, um seine Vernunft gebracht.
    Nietzsche

Gustav Oppermann war auf dem Weg zur Gertraudtenstraße, um an einer Sitzung im Chefkontor des Möbelhauses teilzunehmen. Martin hatte ihn mit ungewohnter Dringlichkeit ersucht, diesmal unter allen Umständen da zu sein.
    Es war einige Tage nach der Ernennung des Führers zum Kanzler. Die Straßen wimmelten von Menschen. Überall sah man die Braunhemden der völkischen Landsknechte, das völkische Hakenkreuz. Gustavs Wagen, von Schlüter sachkundig und schnell gesteuert, kam nicht sehr rasch voran.
    Schon wieder hielt man vor einer roten Ampel. Die Amerikaner, dachte Gustav, haben da ein hübsches Wort: »The lights are against me.« Aber er hatte nicht Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Das Geschrei einer alten Frau störte ihn, die aufdringlich Puppen feilbot. Es waren Puppen, die den Führer darstellten. Die Alte hielt ihm eine solche Puppe ans Wagenfenster. Drückte man den Bauch der Puppe, dann streckte sie den rechten Arm mit der flachen Hand aus – eine Geste, die der italienische Faschismus dem alten Rom, der deutsche

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