Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
ablehnend aus, hochmütig, er saß sehr aufrecht. Das hat er mit Goethe gemein, dachte Rektor François, daß er im Sitzen so groß aussieht. Donnerwölkchen wird unzufrieden sein, dachte er weiter; aber er kann mit gutem Gewissen versichern, er habe sein Möglichstes getan. Im übrigen gefiel ihm die Haltung seines Freundes Gustav.
Beide waren froh, als sie die Mahlzeit beenden und zum Kaffee in die Bibliothek hinübergehen konnten. Es war angenehm, hier in dem schönen Raum abgeklärt über die ewige, meertiefe Dummheit der Menschen zu sprechen und über ihre ebenso ewige Niederlage durch den Geist. Gustav stellte das Büchlein der »Protokolle« zu den andern Pamphleten derSammlung. Lächelnd nahm er das Buch des Führers »Mein Kampf«, das in der Nähe der »Protokolle« stand, und las dem Freund einige besonders saftige Stellen vor. Rektor François hielt sich die Ohren zu; er wollte das falsche, verrenkte Deutsch des Buches nicht hören. Gustav redete ihm gut zu. Sicher habe er aus Widerwillen gegen die Form die Komik des Inhalts noch nicht gewürdigt. Er ließ sich nicht davon abbringen, ihm ein paar Stellen zu zitieren. »Die Gemeinheit des Juden«, las er, »ist so riesengroß, daß sich niemand zu wundern braucht, wenn im deutschen Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibhaftige Gestalt des Juden annimmt.« – »Juden waren es und sind es«, las er weiter, »die den Neger an den Rhein bringen in der Absicht, durch die eintretende Bastardisierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen, um selber zu ihren Herrn aufzusteigen.« – »Die Juden«, las er, »wollen in Palästina keinen jüdischen Staat errichten, um ihn zur bewohnen, sondern sie wünschen nur eine mit eigenen Hoheitsrechten ausgestattete Organisationszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei: einen Zufluchtsort überführter Lumpen und eine Hochschule werdender Gauner.« Rektor François, so angewidert er war, mußte über den gehäuften Unsinn lachen. Auch Gustav lachte. Er las weiter. Die beiden Männer lachten schallend.
Aber lange hielt Rektor François die unappetitliche Lektüre nicht aus. »Ich kann Ihnen kaum schildern, lieber Freund«, sagte er, »wie unbehaglich mir zumute wird, wenn ich etwas aus diesem unsaubern Buch hören muß. Ich übertreibe nicht: mir dreht sich im eigentlichen Wortsinn der Magen um.« Gustav lächelte, gab durch das Haustelefon dem Diener Schlüter Weisung, Kognak zu bringen. Stellte das Buch des Führers zu den »Protokollen« zurück. »Ist es nicht seltsam«, meinte er, »daß die gleiche Epoche Männer so verschiedener Entwicklungsstufen hervorbringt wie den Autor des Buches ›Mein Kampf‹ und den Autor des Buches ›DasUnbehagen an der Kultur‹? Ein Anatom des nächsten Jahrhunderts müßte an den Gehirnen der beiden einen Unterschied von wenigstens dreißigtausend Jahren demonstrieren können.«
Schlüter brachte den Kognak, eiste die Gläser, schenkte ein. »Was haben Sie denn, Schlüter?« fragte Gustav. »Sie sehen ja merkwürdig aus.« Auch François fiel auf, wie verstört das Gesicht des stillen, behenden Mannes war. »Die Städtische Klinik hat angerufen«, sagte Schlüter, sein ruhiges Gesicht sah finster aus, »es geht meinem Schwager nicht gut. Er wird das neue Jahr wohl kaum erleben.« Gustav war betroffen. »Wann waren Sie denn das letztemal dort?« fragte er. »Vorgestern«, sagte Schlüter. »Meine Frau war gestern dort. Er hat zu ihr gesagt: ›Man kann es den Hunden nicht durchgehen lassen. Das ganze Land wird verschweint, wenn alle immer das Maul halten. Wenn ich genau wüßte, daß alles noch mal so käme, ich würde trotzdem wieder so aussagen.‹« – »Gehen Sie in die Klinik, Schlüter«, sagte Gustav. »Sogleich. Sagen Sie auch Bertha, sie soll hingehen. Ich brauche Sie nicht mehr. Schalten Sie das Telefon herein. Wenn was kommt, öffne ich selber. Nehmen Sie den Wagen, wenn Sie wollen.« – »Danke, Herr Doktor«, sagte Schlüter.
Gustav erzählte François, was vorgefallen war. Schlüters Schwager, ein gewisser Pachnicke, Mechaniker seines Berufs, ein anständiger, unpolitischer Mensch, hatte eine der täglichen Raufereien zwischen Republikanern und völkischen Landsknechten mit angesehen. Bei dieser Rauferei war ein Republikaner getötet worden. Die Völkischen erklärten, sie hätten, von den Republikanern angegriffen, in Notwehr gehandelt. Das war die übliche
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