Die Gesellschaft des Abendsterns
Antrieb zu handeln. Langsam, aber sicher erweitert er seine Fähigkeiten. Mit der Zeit sollte er in der Lage sein, wie ein normaler Mensch mit uns in Kontakt zu treten.«
»Im Augenblick ist er also wie ein großes Baby«, sagte Kendra staunend.
»In vieler Hinsicht, ja«, stimmte Coulter ihr zu. »Eine der Aufgaben, die ich euch beiden geben möchte, ist die: Ich möchte, dass ihr jeden Tag eine Stunde mit Hugo spielt. Er wird nicht die Anweisung haben, eure Befehle auszuführen. Ich gebe ihm einfach den Auftrag, sich zu amüsieren. Dann steht es euch beiden frei, mit ihm zu reden, mit ihm Fangen zu spielen, ihm Kunststückchen zu zeigen, was immer ihr wollt. Ich möchte sehen, ob wir ihn dazu bringen können, mehr aus eigenem Antrieb zu handeln.«
»Aber wenn er zu schlau wird, wird er dann nicht aufhören, Befehle zu befolgen?«, fragte Seth.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Coulter. »Gehorsam seinem Herrn gegenüber ist zu tief in seinem Wesen verankert. Er ist Teil der Magie, die ihn zusammenhält. Mit der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Informationen weiterzugeben, könnte er sich jedoch zu einem erheblich nützlicheren Diener entwickeln. Es wäre möglich, dass er sich mit der Zeit eine höhere Bewusstseinsebene erschließt, und das könnte ihm gefallen.«
»Das ist eine schöne Aufgabe«, sagte Kendra. »Wann können wir anfangen?«
»Wie wär’s mit sofort?«, erwiderte Coulter. »Ich glaube nicht, dass wir heute noch genug Zeit für einen richtigen Streifzug durch den Wald haben. Ihr müsst nach dem Mittagessen zurück sein, damit ihr mit eurer Großmutter in die Stadt fahren könnt. Ich habe keine Ahnung, was ihr dort tun werdet.« Coulter ahmte Seths Geste nach und tat so, als versperre er seine Lippen mit einem Schlüssel. »Hugo, ich möchte, dass du mit Kendra und Seth spielst. Fühl dich frei, zu tun, was immer du willst.«
Coulter ging auf das Haus zu und ließ Kendra und Seth mit dem riesigen Golem allein. Einen Moment lang standen die drei schweigend da. »Was sollen wir tun?«, fragte Seth.
»Hugo«, begann Kendra. »Warum zeigst du uns nicht deine Lieblingsblume im Garten?«
»Lieblingsblume?«, stöhnte Seth. »Versuchst du, ihn zu Tode zu langweilen?«
Hugo hob einen Finger und bedeutete ihnen dann, ihm zu folgen. Er stapfte über den Rasen davon in Richtung des Swimmingpools. »Wenn er sich eine Lieblingsblume aussuchen darf, kann er üben, Entscheidungen zu treffen«, erklärte Kendra, während sie losrannte, um mit Hugo Schritt zu halten.
»Schön, wie wär’s dann mit einer Lieblingswaffe oder einem Lieblingsmonster oder irgendetwas Coolem?«
Hugo blieb neben einer Hecke stehen, unter der ein Blumenbeet angelegt war. Er deutete auf eine große blauweiße Blume mit einer trompetenförmigen Blüte und durchschimmernden Blättern. Sie sah wirklich sehr besonders aus.
»Gute Wahl, Hugo, mir gefällt sie auch«, lobte Kendra.
»Toll«, sagte Seth. »Du bist sehr sensibel und künstlerisch veranlagt. Aber wie wär’s mal mit was Lustigem? Willst du in den Pool springen? Ich wette, du könntest die besten Arschbomben machen!«
Hugo überkreuzte seine Hände als Zeichen, dass ihm die Idee nicht gefiel.
»Er ist aus Erde«, sagte Kendra. »Benutz dein Gehirn.«
»Und aus Stein und Lehm … ich dachte, es würde ihn nur irgendwie schlammig machen.«
»Und den Filter verstopfen. Du könntest Hugo ja auffordern, dich in den Pool zu werfen.«
Der Golem drehte den Kopf in Seths Richtung, der die Achseln zuckte. »Klar, das wäre lustig.«
Hugo nickte, ergriff Seth und warf ihn wie ein Basketballspieler bei einem Drei-Punkte-Versuch in hohem Bogen durch die Luft. Kendra japste erschrocken. Sie waren gute
zehn Meter vom Rand des Pools entfernt, und Kendra hatte erwartet, dass der Golem Seth erst einmal näher an das Becken bringen würde, bevor er ihn warf. Ihr Bruder segelte durch die Luft, fast so hoch wie das Dach des Hauses, dann landete er mit einem beeindruckenden Klatschen im tiefen Bereich des Beckens.
Kendra rannte an den Rand des Pools. Als sie dort ankam, kletterte Seth gerade aus dem Wasser. Seine Haare und seine Kleider waren tropfnass. »Das war der irrste, tollste Moment meines Lebens!«, verkündete er. »Aber lass mich beim nächsten Mal vorher meine Schuhe ausziehen.«
KAPITEL 9
Der Sphinx
D er SUV wartete an einer roten Ampel, und Kendra blickte aus dem Fenster auf eine riesige verfallene Fabrik. Die unteren Fenster waren kreuz und quer mit halb
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