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Die Gesellschaft des Abendsterns

Die Gesellschaft des Abendsterns

Titel: Die Gesellschaft des Abendsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brandon Mull
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habe.«
    »Ich bin froh, dass du das getan hast.« Vanessa schlüpfte in einen Bademantel und ging vor Kendra her auf den Flur hinaus. »Du holst Coulter; ich verständige Tanu.«
    Kendra lief den Flur entlang zu Coulters Tür. Nach einem schnellen Klopfen trat sie ein. Sein Bett war leer. Frisch gemacht. Von ihm selbst war nichts zu sehen.
    Kendra kehrte in den Flur zurück, wo Tanu mit trüben Augen hinter Vanessa herging. »Wo ist Coulter?«, fragte sie.
    »Er ist auch weg«, vermeldete Kendra.
     
    Seth, der immer noch in der Dunkelheit auf dem Rücken lag, versuchte, sich an die Angst zu gewöhnen. Wenn er sich
daran gewöhnen könnte, könnte er ihr vielleicht widerstehen. Das Gefühl erinnerte ihn an die Regung, die man erlebt, wenn man plötzlich erschreckt wird und zusammenzuckt – ein Ausbruch instinktiver, irrationaler Panik. Nur dass dieses Gefühl jetzt anhielt. Statt plötzlich über einen herzufallen und sich dann wieder zu legen, hielt der Schrecken nicht nur an, er wurde sogar noch stärker. Es fiel Seth schwer zu denken, geschweige denn, sich zu bewegen. Er lag erstarrt da, überwältigt, in einem inneren Kampf gefangen, während er spürte, dass irgendetwas unausweichlich näher kam. Die einzige ähnliche Erfahrung war die mit Tanus Angsttrank gewesen, wobei diese jetzt vergleichsweise harmlos wirkte. Das hier war richtige Angst. Angst, die töten konnte.
    »Seth«, sagte eine angespannte Stimme, »wie sind wir hierhergekommen?«
    Außerstande, den Kopf zu bewegen, verdrehte Seth die Augen zur Seite. Coulter lag, auf einen Ellbogen gestützt, neben ihm. Es half, dass er jetzt etwas anderes als Furcht hatte, worauf er sich konzentrieren konnte, und die Tatsache, dass Coulter noch immer zu sprechen vermochte, gab ihm Hoffnung. Aber was für eine bescheuerte Frage war das? Coulter wusste, wie er hierhergekommen war. Es war seine Idee gewesen. Seth versuchte zu fragen, was er meinte, brachte aber nur ein Stöhnen zustande.
    »Egal«, ächzte Coulter. Er streckte eine Hand nach Seth aus und bewegte sich wie ein Mann auf einem Planeten, auf dem die Schwerkraft zehnmal größer ist als auf der Erde. »Nimm es.«
    Seth konnte nicht sehen, was Coulter in der Hand hielt. Er versuchte, seinen Arm zu bewegen, schaffte es aber nicht. Er versuchte, sich aufzurichten, und schaffte auch das nicht.
    »Schau«, sagte Coulter. Die Taschenlampe lag in der Nähe seiner Füße auf dem Boden. Er versetzte ihr einen sanften
Tritt, so dass sich der Winkel des Strahls veränderte. Dann fiel Coulter flach auf den Rücken.
    Nachdem das Licht sich gedreht hatte und Coulter flacher auf dem Boden lag, konnte Seth sehen, was durch die Bäume näher kam: ein ausgemergelter, in Lumpen gekleideter Mann, dem aus der Seite seines Halses ein langer Dorn ragte. Seine Haut wirkte kränklich, leprös, mit offenen Pusteln und fleckigen Verfärbungen. Weil die Taschenlampe auf dem Boden lag, war die untere Hälfte der Gestalt besser beleuchtet als die obere. Der Mann hatte knotige Knöchel. Getrockneter Schlamm haftete an den Aufschlägen seiner zerfetzten Hose. Seth betrachtete sein schattenhaftes Gesicht. Er hatte einen kantigen Adamsapfel und trug das unnatürliche Lächeln eines schüchternen Mannes zur Schau, der für ein Foto posierte. Die Augen waren leer, aber auf unheimliche Art wach. Seine Miene war wie versteinert. Er war noch immer etwa fünfzehn Meter entfernt und kam nur langsam näher, als wäre er in Trance.
    Keuchend und schwitzend stemmte Coulter sich wieder auf den Ellbogen hoch. »Wiedergänger«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Talismanisch … benutzt Furcht … entferne den Nagel.« Er rutschte näher an Seth heran. »Öffne … Mund.«
    Seth konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf seinen Kiefer. Er konnte nicht aufhören, mit den Zähnen zu knirschen. Den Mund zu öffnen, kam im Moment nicht in Frage. »Kann nicht«, versuchte er zu sagen. Kein Laut kam heraus.
    Coulter drückte ihm etwas in die Hand. Es fühlte sich wie ein Taschentuch an. »Warnen«, hustete Coulter, der das Wort ebenfalls kaum herausbekam. Er versuchte, noch mehr zu sagen, aber es klang, als ersticke er.
    Coulters Oberkörper sank vornüber. Seine beiden Hände lagen auf Seths Gesicht. Mit einer riss er ihm brüsk den Kiefer
nach unten. Mit der anderen schob er ihm etwas zwischen die Lippen. Als Coulter ihn losließ, biss Seth automatisch kräftig darauf; sein Kiefer verkrampfte sich unwillkürlich und drückte das kleine Objekt

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