Die Gesichter der Zukunft
sorgenvoll verfinsterter Miene auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreißig, und in einer halben Stunde mußte er fertig sein. Dann bliebe ihm gerade noch genug Zeit, zur Universität zu eilen und seine Rede vor der Philosophischen Gesellschaft zu halten.
Er hatte nicht mit diesem plötzlichen Geistesblitz gerechnet. Er hatte daran gedacht, einen Vortrag über das Thema »Spinoza und das Zeitalter der Aufklärung« zu halten. Aber bei der Ausarbeitung war ihm eine phantastische Idee gekommen und hatte ihn nicht mehr losgelassen. Er merkte nicht einmal, daß sein Körper verkrampft war und schmerzte. Seit dem frühen Morgen hatte er seinen Platz am Schreibtisch nicht mehr verlassen.
Ein Ruf kam aus den Tiefen des Hauses: »Henry!«
Henry hörte ihn nicht.
»HEN-r-r-r-i-i-i!«
Er blickte nicht auf.
»HENRY MUDGE! Wollen Sie jetzt kommen und essen, oder nicht?«
Diesmal hörte er den Ruf, aber mit weniger als einem halben Ohr. Er kehrte erst in die Welt des Beefsteaks und der Salzkartoffeln zurück, als Mrs. Doolin, seine Haushälterin, wie eine Gewitterwolke in seinem Arbeitszimmer erschien. Sie war eine große und stämmige Frau mit einer kraftvollen Persönlichkeit. Sie war sehr fleißig und rechtschaffen, und als sie den Zustand des Zimmers sah, nahm sie eine Haltung an wie ein General, der im Begriff ist, eine Exekution zu befehlen.
»Henry! Was haben Sie gemacht? Wie sieht es hier aus? Und sehen Sie sich an! Nase und Hände voll Tinte – und da ist ein Tintenfleck an Ihrem Jackett!«
Henry mochte das Universum herausfordern, aber Mrs. Doolin war der Schwarze Mann in Henrys Leben. Vor zehn Jahren hatte sie sich schicksalhaft auf ihn her abgesenkt, und seitdem …
»Ja, Lizzie«, sagte Henry, und zum ersten Mal wurde er sich seines schmerzenden Körpers und seiner Müdigkeit bewußt.
»Wollen Sie essen oder nicht? Ich habe Sie schon vor einer halben Stunde gerufen, und das Beefsteak wird noch ganz verbraten. Und Sie müssen sich umziehen. Was in aller Welt ist in Sie gefahren, Henry Mudge?«
»Ja, Lizzie«, sagte er besänftigend. Er stand langsam auf, und seine Gelenke knackten laut.
»Was haben Sie aus diesem Arbeitszimmer gemacht?«
Die Flamme des Enthusiasmus flackerte in Henry auf. »Lizzie, ich habe es! Ich glaube, ich habe es!« Und dieser Gedanke ließ ihn sogar Lizzie Doolin vergessen. Er tat ein paar aufgeregte Schritte in den Raum, schob seine Brille hoch und sagte: »Wirklich, ich habe es!«
»Was?« fragte Lizzie Doolin ungeduldig.
»Die Gleichung. Es ist großartig. Lizzie, wenn ich recht habe, gibt es einen Zustand ohne Dimension. Eine negative Dimension, Lizzie. Stellen Sie sich das vor! Und all die Jahre haben sie versucht, die vierte positive Dimension zu finden, und nun, indem ich rückwärts arbeitete …«
»Henry, wovon reden Sie eigentlich?«
Aber Henry war wieder in die Abstraktion zurückgekehrt, und der Blitz zuckte in seinem Gehirn. »Die negative Dimension!«
»Was?«
Er wußte kaum, daß sie da war. »Stellen Sie sich vor! Sie wissen, was Sie mit Ihrem Verstand tun können. Sie stellen sich vor, Sie seien in Praxis, und zack, Ihre Phantasie hat Sie nach Praxis getragen. Sie können sich vorstellen, daß Sie in einem Fluß schwimmen, und zack! schon hat Ihre Phantasie das Nötige besorgt. Aber der Körper bleibt, wo er ist. Und warum, Lizzie? Warum?«
»Henry Mudge …!«
»Aber es gibt eine negative Dimension. Ich bin ganz sicher. Ich habe sie beinahe formuliert, und wenn es mir gelingt …«
»Henry Mudge, Ihr Essen wird kalt. Lassen Sie diesen Unsinn …«
Aber er hatte sie nicht gehört. Plötzlich ergriff er seinen Füllhalter und schrieb. Und auf seinem Schreibblock entstand die Gleichung C.
Er war sich keiner Veränderung in seinem Innern bewußt. Aber in seinem Gehirn begann sich etwas wie eine erwachende Bestie zu regen. Und auf dem Papier vor ihm war Gleichung C.
»Henry Mudge!« sagte Lizzie mit einem rauhen Unterton. »Wenn Sie nicht sofort kommen und Ihre Mahlzeit essen, wie es sich gehört, dann …« Sie kam auf ihn zu wie ein Elefant.
Henry wußte in diesem Moment, daß er- mit ihr zu weit gegangen war. Und ein Teil seines Gehirns erkannte die Gefahr in ihr. Seit Jahren hatte er in Furcht vor ihr gelebt …
»Ich wünschte, ich wäre in Paris«, murmelte Henry erschauernd und wich vor ihr zurück.
Wups!
»Cognac, M’sieur?« sagte der Kellner.
»Eh?« sagte Henry, verwirrt vom Tisch des Straßencafes aufblickend. Spaziergänger und Leute, die
Weitere Kostenlose Bücher