Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
gleich als Erstes mit der Meldung, der Kindergarten habe gerade angerufen, Sandro sei immer noch nicht abgeholt. Dann hatte Matte es also vergessen. »Es ist Viertel nach sechs. Um vier hat Sandro aus, ist ja lang genug, so ein Achtstundentag für ein Kind. Null Verantwortungsgefühl hat sie. Sie kann ihren Sohn doch nicht einfach immer irgendwo abstellen.« Silvia war außer sich. »Weißt du, wo sich deine Schwester herumtreibt?«
»Ist Papa schon da?«, fragte sie in Silvias Gezeter hinein. »Er wollte Sandro ab…« Carina stockte. Rosa Salbecks Akte war weg. Bevor sie heute Morgen gegangen waren, hatte sie sie in die Fensternische gelegt.
Silvia lachte auf. »Er musste gleich wieder fort zu einer verletzten Frau. Macht jetzt auch noch private Krankenbesuche, aber wie es mir geht, ist ihm egal. Du, ich muss jetzt Schluss machen und Sandro holen.«
Carina durchsuchte die Wohnung. Konnte es sein, dass der Hund die ganze Mappe davongeschleppt hatte? Aber wie war er überhaupt hinausgekommen? Sie erinnerte sich nicht mehr, ob sie abgesperrt hatte. War er auf die Klinke gesprungen?
Also los, sie musste ihn suchen und dann Wanda. Nein, zuerst ihre Schwester, dann den Hund. Von weit weg betrachtet, aus der mexikanischen Einsamkeit, war ihre Familie was Wunderbares, alle hatten nur lachende Gesichter, hielten zusammen und nahmen Rücksicht aufeinander. War man mittendrin, war sie kaum auszuhalten. Sogar Wandas Anrufe und ihr Gejammer als Alleinerziehende waren wie eine vergessene Musik gewesen, die sie nur abzuschalten brauchte.
Was, wenn ihr doch was passiert war? Hätte sie ihr besser zugehört, dann wüsste sie jetzt, wo sie sich befand. Ein Casting irgendwo – nur wo? Sie wusste nicht mal, ob beim Radio oder in einem Tonstudio. Der Zettel! Den hatte sie ganz vergessen. Sie lief ins Bad. Aber am Klodeckel klebte nichts. Sie hob die Klobrille. Sandro hatte vergessen zu spülen, und da schwamm auch ein Stück Papier: der Zettel. Sie fischte ihn mit der Klobürste heraus. Was auch immer darauf gestanden hatte, war blassblau verschmiert.
Wo sollte sie anfangen, nach Wanda zu suchen? Seufzend setzte sie sich in die Fensternische und starrte in den schmalen Streifen Abendsonne unter den dicken, schwarzen Wolken über der Stadt. Vermutlich kehrte Wanda auch gerade in diesem Moment heim, und ihre Mutter hatte sich ganz umsonst aufgeregt. Vielleicht hatte Carina die Akte auch mit in die Arbeit genommen? Ja, so musste es sein, bei dem Chaos heute Morgen. In ihrer Tasche war sie allerdings nicht. Dort fand sie nur Clemens’ Visitenkarte, sie dachte an ihren ersten Kuss im Englischen Garten und die vielen Küsse in der Röntgenkammer. Zu gern hätte sie jetzt mit jemandem geredet, alles erzählt. Sie hätten zusammen den Hund suchen können, und als Wiedergutmachung hätte sie ihn dann ins Kino eingeladen. Wanda hin oder her, wenn ihre Schwester sich mit einem Liebhaber vergnügte, dann … Nein, sie sorgte sich wirklich um sie. Aber was sollte sie tun? Sie hatte Lust, sich mit einem deutschsprachigen Film abzulenken, keinem dieser schlecht synchronisierten Hollywoodschinken, wie sie in den mexikanischen Kinos liefen. Oder einfach nur spazieren gehen, Hauptsache nicht allein sein. Sie wählte Clemens’ Nummer.
»Becky Schäfer.« Eine Kinderstimme meldete sich.
»Hallo, hier ist die Carina. Kann ich bitte Clemens sprechen?«
»Nein, geht nicht. Ich darf in der Badewanne nicht telefonieren und sie auch nicht.«
»Wer sie?«
»Na, Mama und Papa, die baden doch gerade. Tschüss.« Es klickte in der Leitung.
Wieso sagte Clemens ihr nicht, dass er Familie hatte? Er knutschte und fummelte mit ihr herum … Vielleicht gab es ihm ja einen Kick, dem verkappten Zahnklempner, wenn er mit einer Gruftieärztin herummachte. Und zu Hause war er dann wieder der brave Papa, der mit seinem Frauchen in der Wanne hockte. Vater, Mutter, Kind. Wie es ihr ging, interessierte ja keinen.
Carina schniefte. Fast genau dieselben Worte hatte vorhin ihre Mutter gebraucht. Nicht mal eigene Gedanken hatte sie mehr. Und dieser blöde Köter war auch noch verschwunden. Wie sollte sie der Bretschneider beibringen, dass ihr geliebter Gandhi abgehauen war? Am liebsten hätte Carina sich verkrochen und ihr Hirn ausgeknipst. Aber der Schlafsack war immer noch feucht. Sie drehte die Heizung voll auf und legte ihn darauf. Sie gehörte nirgendwohin. Nicht hierher und nicht mehr nach Mexiko. Von ihren Eltern herumgezerrt, von ihrer Schwester ausgenutzt,
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