Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Schmuggelgut seit sieben Jahren in einer Luftpolstertasche. Ihr Trinkgeld legte sie monatlich dazu, wenn sie einkaufen ging. Das wollte sie für eine Kreuzschiffreise sparen, so hatte sie es sich nach der Geburt ihres Sohnes erträumt. Es war nicht viel, bloß ein paar hundert Mark in einem Kindergeldbeutel, den sie zum Schulanfang von ihrem Vater bekommen hatte.
40.
Falls Wanda bis dahin nicht aufgetaucht war, würde ihr Vater Sandro vom Kindergarten abholen, versprach er. Carina schlug sein Angebot aus, sie heimzufahren. Er brauchte noch nicht zu wissen, wo sie wohnte. Beim Bahnhofsbäcker kaufte sie sich eine mit Salat und Käse belegte Semmel und wartete auf die S-Bahn. Entspannte und gestresste Gesichter, die vage jemandem zu ähneln schienen, den sie kannte, lenkten sie von ihren Sorgen ab und inspirierten sie.
Erst den vierten Tag war sie jetzt wieder in Deutschland und fühlte sich doch, als wären es vier Wochen. Wenn an der Anzeigetafel zwei Minuten stand, dann setzte sie wie selbstverständlich voraus, dass die nächste Bahn auch in genau zwei Minuten kam. In Mexiko konnten es auch mal zwei Stunden oder Tage werden. So mancher Fahrgast hatte dort anstelle einer Aktentasche ein Huhn auf dem Schoß oder gleich den gesamten Hausstand samt zahnloser Großmutter dabei. Sie stieg in die S-Bahn, wandte sich dann rasch um. Schon auf dem Weg vom Institut zum Bahnsteig hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihr jemand folgte. Einbildung und Übermüdung, weiter nichts, sagte sie sich, zupfte ein Gurkenstück aus der Semmel und betrachtete wieder die Leute. Sie stellte sich die Halsmuskeln vor, die Kieferknochen und wie sie den Schädel aufbauen würde, sollte einer von ihnen einmal auf ihrem Tisch landen. Hier erst das Bad in der unbekannten Menge – zu Hause wollte sie dann ein richtiges nehmen. Am besten, sie brachte Gandhi gleich ins Tierheim zurück, kaufte sich auf dem Rückweg ein Badesalz und legte sich in die Wanne.
Leer gähnte ihr der Briefkasten entgegen. Wer sollte ihr auch schreiben? Außer Clemens, Wanda, Frau Schauer oder dem Vermieter kannte niemand ihre Adresse. Der lange Brief ihres Vaters fiel ihr wieder ein, den er ihr nach Mexiko geschrieben hatte, als er endlich ein Lebenszeichen von ihr bekam. Darin hatte er, versteckt in Anekdoten aus dem Präsidiumsalltag, all das ausgedrückt, was er ihr nie gesagt hatte. Er berichtete von drei alten Damen, die bei einer Kaffeefahrt abgezockt worden waren und nun der Ermordung des Veranstalters verdächtigt wurden, der mit drei Heizdecken erstickt worden war. Sie beschworen ihre Unschuld und hatten auch passende Alibis. Zur Tatzeit waren sie auf einer Kaffeefahrt gewesen, natürlich, wo sonst. Carina hatte beim Lesen gespürt, was unter den vielen Zeilen eigentlich verborgen lag, eingeprägt wie ein Wasserzeichen: »Komm zurück.« Jetzt war sie heimgekehrt, aber irgendwas quälte ihren Vater immer noch. Gerade wollte sie den Briefkasten wieder zuschlagen, da bemerkte sie ganz unten drin ihren Wohnungsschlüssel. Merkwürdig, hatte ihre Schwester ihn nun doch gefunden und eingeworfen?
»Hunde sind übrigens nicht erlaubt, Frau König«, sagte der Hausmeister, dem sie gleich den Ersatzschlüssel zurückgab. Die dreifarbige Katze schlüpfte mit hoch erhobenem Schwanz an Carina vorbei in seine Wohnung. Richtig, Wanda hatte sie ja unter dem Mädchennamen ihrer Mutter angemeldet. C.K., raffiniert, an Wanda war eine Agentin verlorengegangen. »Ist nur für kurze Zeit, für eine kranke Freundin.« Sie konnte sich zwar nicht erinnern, dass ein Verbot von Haustieren im Mietvertrag gestanden hatte, aber sie war zu müde, um zu diskutieren oder ihren Namen richtigzustellen, und stieg die Stufen hinauf. Ihr Vater, mit seiner Vernehmungskunst, hatte sie ausgelaugt, einzig auf den Fall Rosa Salbeck war er sofort angesprungen. Dabei hatte sie ihm noch gar nicht gesagt, was sie herausgefunden hatte. Sie wollte am liebsten nur noch durchschlafen bis morgen früh. Doch gleich hinter der Eingangstür stieß sie auf ihre verstreuten Sachen. Unterhosen und eine Haarbürste, der Hund musste ganz schön herumgetobt haben. Sie rief ihn, keine Reaktion. Er war nicht im Kuppelzimmer oder in der Küche und auch nicht im Bad. Nur seine Leine lag im Flur. Ein Handtuch verstopfte den Abfluss der Dusche. Bevor sie mit Sandro heute Morgen gegangen war, hatte sie es über die Badewanne gehängt. Sie rief ihre Eltern an, es reichte, liebe Wanda! Ihre Mutter nahm ab und überfiel sie
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