Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
lächeln oder küssen kann, wird es noch dauern«, so Prof. Dreifuss (Interview S. 7 ). »Nach der Operation ist es noch nicht ausgestanden. Ihr Körper muss lernen, das fremde Gewebe anzunehmen. Auch wenn die Lippen von einer anderen Person stammen, wird das Aussehen zwischen Frau B.s ursprünglicher Mundpartie und dem der toten Spenderin liegen. Der Mund wird mit Frau B.s vorhandener Muskulatur verbunden und ihrer Knochenstruktur angepasst.« Wir werden Eva B. bei diesem Eingriff exklusiv in Zusammenarbeit mit Beauty TV begleiten (s. Porträt S.32).
Carina entdeckte die Schlagzeile des Münchner Tagblatts am nächsten Morgen im Zeitungskasten und las den Artikel in der S-Bahn. Nun wusste sie, woher Eva Bretschneider das Geld für die Transplantation hatte. Sogar ein Foto von ihr vor der Entstellung und dann eines im Krankenhaus mit Gesichtsverband waren hinten im Porträt, das den Start einer Serie bildete, abgedruckt. Carina lehnte sich zurück. Also die Rekonstruktion einer Lebenden mit Hilfe einer Toten.
Die Salbeck-Akte war auch in ihrem Arbeitsraum nirgends zu finden. Am besten, sie besprach mit ihrer Chefin, wie sie wegen der verschwundenen Akte weiter vorgehen sollte. Bloß wie erklärte sie, dass sie die Akte mit nach Hause genommen hatte?
Auf jeden Fall war zuerst Marie an der Reihe, die Familie hatte lange genug gewartet. Von allen Seiten knipste Carina mit ihrer Digitalkamera Maries Gesichtsrekonstruktion und überprüfte die Ansichten auf dem Computerbildschirm. Wenn die Skulptur zerstört war, blieb nur diese Datei als Dokumentation. Bevor sie das Plastilin wieder vom Schädel nahm, gab sie Maries Gesicht noch verschiedene Ausdrücke, Freude und Trauer, Grübeln und Schmollen und fotografierte es für ihre private Datei. Als sie endgültig von Maries Antlitz Abschied nahm und die Knete in großen Brocken entfernte, rief Matte an. Sie klemmte sich das Handy in die Halsbeuge. »Ja?«
»Wir haben was.« Er klang aufgeregt. »Meine Kollegin, die eine Gärtnerlehre zugunsten des Streifendiensts aufgegeben hat, konnte die Herkunft von Eva Bretschneiders Blumenstrauß auf wenige exquisite Geschäfte in München eingrenzen.«
»Und?«, fragte Carina, rollte vorsichtig die Glasaugen aus den Höhlen und legte sie in die Schachtel zurück.
»Wir haben den vergrößerten Ausschnitt des Tatortfotos herumgezeigt und eine Floristin gefunden, die sich erinnert, am vergangenen Samstag genau diesen Strauß verkauft zu haben. Treffen wir uns vor dem Laden, sagen wir um elf?«
Was sollte sie als Rechtsmedizinerin dort? Ihre gestrige Predigt war wohl für die Katz gewesen. Andererseits … Sie rang mit sich. Neugierig war sie schon, und hatte sich nicht sogar ihre Chefin nach dem Befinden von Eva Bretschneider erkundigt? Sie sagte zu, reinigte den Schädel, wischte die restlichen Knetespuren mit einem Tuch ab und brachte ihn zu Maries Skelett in die Kühlung. Dann ging sie nach oben und suchte im Aktenschrank, ob nicht vielleicht jemand in ihrem Arbeitszimmer gewesen war und die Akte einfach zurückgebracht hatte. In der Lücke lag immer noch der Vermerk, von der Mordkommission entliehen. Also war tatsächlich jemand in ihrer Wohnung gewesen und hatte dann brav den Schlüssel in den Briefkasten geworfen, oder was?
Im Seziersaal gab Carina Nusser Bescheid, dass der Leichnam zur Bestattung freigegeben war.
»Frau Dr. Kyreleis, kann ich Sie kurz sprechen?« Prof. Feininger legte ihr Kittelzelt ab, desinfizierte ihre Hände. und winkte sie in ihr Büro. Das traf sich gut, Carina wollte sowieso um Erlaubnis bitten, sich einige Stunden freizunehmen, ihr Vater erwartete sie. »Nehmen Sie Platz.« Feininger selbst brauchte eine Weile, um sich hinter ihren Schreibtisch zu zwängen und in ihren geräumigen Stuhl zu wuchten. »Ich habe gestern Abend einen Anruf erhalten.« Sie glättete eine geknickte grüne Haftnotiz, eine von vielen bunten Zettelchen auf ihrer Schreibtischunterlage. Drei fett gekritzelte, auf dem Kopf stehende Buchstaben konnte Carina erkennen: BKA ; darunter stand noch etwas, vermutlich die Eckdaten des Telefonats, aber Feininger legte ihre breite Hand darauf. »Haben Sie ohne dienstliche Anweisung eine DNA -Analyse in Auftrag gegeben?«
Dr. Herzog war das Gefummel mit Clemens in der Röntgenkammer wohl zu viel gewesen, und er hatte sie bei der Chefin angeschwärzt.
Die schien Carinas Gedanken zu lesen. »Dr. Herzog hat die Analysedaten in die internationale Vermisstendatenbank eingegeben, er hat
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