Die Gespenster von Berlin
Typen.«
»Woher kommt die Wunde?«
»Die Wunde hat was mit Hitler zu tun, mit den Nazis. Die andere Seite hat was vor. Die bereiten was vor.«
»Was bereiten die vor?«
»Es geht um eine ständige Weiterentwicklung. Die Wunde zu schließen, das braucht Zeit. Aber die Wunde schließt sich, ganz langsam. Es wäre eine Anmaßung, zu sagen, da ist ein Loch und ich mache es mal zu.«
Ich bat sie, mir von ihren Fähigkeiten zu erzählen.
Einmal lernte sie eine Frau kennen, deren Hund schweres Asthma hatte, die Frau war sehr besorgt, denn sie liebte den Hund über alles. Soll ich mal gucken, was er hat?, bot Solveig an. Dann sprach sie mit dem Hund. Der Hund schien zu sagen: »Das ist ihre Angst, die ich trage, deshalb bin ich krank.« Das passiert sehr oft, erklärte sie mir, dass die Tiere uns was abnehmen, manche sterben daran. Der Hund wurde danach etwas gesünder, und die Frau etwas kränker. Dann fuhren Frau und Hund gemeinsam auf Kur, jetzt geht es beiden besser. Wie anders sie doch sprach als Herr Neumann. Vielleicht war das das Anfängerhafte an ihr? Für Solveig war eine Geschichte erst zu Ende, wenn sie einen glücklichen Ausgang gefunden hatte, wenn sie wusste, dass ihre Anstrengungen zu etwas geführt hatten. Aber sie hatte auch nicht den ganzen Tag mit den Problemen anderer Leute zu tun, Herr Neumann schon. Er war so erfolgreich, dass er einen Putzjob nach dem anderen absolvierte. Und nach Feierabend noch in den Schönhauser Allee Arcaden reinigte. Er hatte eine Routine entwickelt, er interessierte sich nicht für einzelne Personen, sondern für die effektive Reinigung sogenannter besetzter Räume.
Solveig erzählte eine weitere Geschichte, von der Klassenlehrerin ihrer Tochter. Die Lehrerin war sehr oft krank, so oft, dass die Eltern unzufrieden wurden und sich bei der Schulleitung beschweren wollten. Vorher baten sie Solveig, mit der Lehrerin zu sprechen. Solveig ging in der Nacht vor dem Gespräch im Traum auf eine Reise. Der Vater der Lehrerin erschien ihr und sagte: »Hilf meinem Kind!«
»Ich sah die Trauer in der Familie. Alle waren wie gelähmt. Ich fühlte die Gefühle des Vaters. Das ist unglaublich, wie stark diese fremden Schuldgefühle sind, das ist wirklich unglaublich.« Solveig sprach die Klassenlehrerin in einem ruhigen Moment auf den toten Vater an. Dass sie glaube, der Vater habe sich noch nicht verabschieden können. »Weil du so leidest, kann er nicht gehen.« Solveig wunderte sich selbst über ihre Worte. Aber es dauerte nicht lange, und da war die Lehrerin wieder gesund.
Solveig ist eine zweifache alleinerziehende Mutter aus dem Prenzlauer Berg, sie arbeitet als freiberufliche Sekretärin, hat Zwergkaninchen, Meerschweinchen und Mäuse, sie spricht mit den Toten, sie sieht nie fern, ist Zauberlehrling und Bürohilfe bei Herrn Neumann, wäre lieber als Medium gefragt, hat aber noch kein Geschäftsmodell.
»Was ist mit den vielen anderen Toten, die auch kommen und sprechen wollen?«, sagte sie zum Abschied, dann brachte sie mich und das Altpapier hinunter.
Ich ging noch einmal zum Portal der tausend Augen. Diesmal sah ich mehr, denn nun hatte ich in Büchern gelesen, was hier früher geschehen war. In der Parallelstraße Buchholzer Straße kapitulierten die deutschen Truppen erst am 2. Mai 1945. Das restliche Berlin hatte bereits einen Tag vorher die Kampfhandlungen eingestellt. Doch hier hatte es einen sinnlos langen Kampf gegeben, da einige deutsche Soldaten hofften, nach Norden fliehen zu können. Die rote Fahne der Sowjets wehte längst auf dem Reichstag und war auch von den Dächern des Prenzlauer Bergs gut zu erkennen. Vor der Gethsemane-Kirche baumelten die Leichen zweier Männer, die von der SS in den letzten Kriegstagen hingerichtet worden waren. Später suchten die Sowjets vor allem in diesem Gebiet nach Soldaten, die sich Zivilkleidung besorgt hatten und untergetaucht waren, um sich der Kriegsgefangenschaft zu entziehen.
»Lieber Herr Neumann«, schrieb ich dem Hausentstörer in einer letzten E-Mail. »In Ihrem Haus lebte einst der kleine Horst, der in der Schule seine Erlebnisse mit dem Krieg aufschreiben sollte. Ausgerechnet am Tag seiner Konfirmation, am 18. März 1943, wurde das Haus Nummer drei (drei wie Universum, Ihr Haus), von einer Bombe getroffen. Die oberen Stockwerke waren zerstört. Er und seine Familie waren zu diesem Zeitpunkt beim Konfirmationsgottesdienst in der Gethsemane-Kirche, und von dort ging es in den Bunker. Horst schrieb kurz nach
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