Die Gewürzhändlerin
Wieds augenblickliche Lage gehört hatte, war es nur recht und gewissermaßen ihre Christenpflicht, ihm zu helfen.
In Wahrheit aber hatte sie schlicht und ergreifend Angst. Sie fürchtete sich vor den neuen Erfahrungen, die vor ihr lagen. Was, wenn sie den Aufgaben, die der Kaufmann ihr zudachte, nicht gewachsen war? Was wusste sie schon von Gewürzen, was vom Führen eines Verkaufsstandes? Zwar konnte sie lesen, schreiben und rechnen, doch das hob sie noch lange nicht aus dem niederen Stand heraus, in den sie hineingeboren war. Ihre hübschen Kleider und die sorgfältig frisierten Haare konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie einst barfuß über frischgepflügte Felder gerannt war und zusammen mit den anderen Kindern aus Blasweiler die Saatkrähen verscheucht hatte. Den inzwischen weichen, glatten Händen sah man vielleicht nicht mehr an, dass Luzia früher einmal täglich eine Mistgabel gehalten und die Sense bei der Heuernte geschwungen hatte, doch in ihrem Kopf und in ihrem Herzen sah sie dies alles so deutlich vor sich, als sei es erst gestern gewesen, dass sie ihr Heimatdorf verlassen hatte, um in den Dienst der edlen Grafentochter Elisabeth von Küneburg zu treten.
Luzia seufzte innerlich. Das Einzige, was sie heute dazu gebracht hatte, sich nicht irgendwo zu verkriechen, sondern an der Seite ihres Bruders den Weg zum Jahrmarkt anzutreten, war ihre Neugier: dieses winzige, aber äußerst vorwitzige Flämmchen in ihrem Herzen, das sie antrieb, Neues auszuprobieren. Wenn sie ehrlich war, hatte es ihr Vergnügen bereitet, der Gattin des Ratsherrn Safran, Mandeln und Paradieskörner zu verkaufen und dabei mit den komplizierten Rechenoperationen ihren Kopf anzustrengen. Es war eine Herausforderung gewesen, und sie hatte sie gemeistert, ganz gleich, ob Martin Wied mit ihrer Vorgehensweise einverstanden gewesen war oder nicht. Immerhin musste sie so gut gewesen sein, dass er sich veranlasst gesehen hatte, ihr Talent anzuerkennen und sie um weitere Hilfe zu bitten.
Doch wollte sie das wirklich? Dass sie einem Freund helfen würde, stand natürlich außer Frage; aber bisher hatte sie den Kaufmann nie als Freund betrachtet. Auch nicht nachdem er ihr die Kette überlassen hatte. Er war nach wie vor ein Fremder für sie. Ein Fremder, dessen Nähe ihr unangenehm war. Schon der Gedanke daran, womöglich einen ganzen Tag lang an seiner Seite zu verbringen, verursachte wieder dieses flaue Ziehen in ihrer Magengrube.
Die halbe Nacht hatte sie wach gelegen und versucht, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, weshalb sie heute nicht zum Florinshof gehen konnte. Doch das Lügen lag ihr nicht; sie verabscheute Menschen, die die Unwahrheit sagten. Die mögliche Wahrheit jedoch flößte ihr Furcht ein. Was, wenn sie tatsächlich Gefallen daran fand, als Wieds Gehilfin Gewürze zu verkaufen? Wäre es dann nicht umso schwerer, nach dem Jahrmarkt wieder zu ihrer alten Tätigkeit zurückzukehren? Bisher war sie in Elisabeths Haushalt immer ausgesprochen glücklich und zufrieden gewesen. Zwar vermisste sie oft ihre Familie, doch an deren Schicksal ließ sich nichts mehr ändern. Sie betete regelmäßig für ihre Eltern und die Schwester, bat die Muttergottes inständig, sie liebevoll ins ewige Himmelreich aufzunehmen. Doch sie – Luzia – war am Leben geblieben. Dass sie die schreckliche Pestilenz überlebt hatte, sah sie als Zeichen, dass der Allmächtige noch etwas mit ihr vorhatte. Bisher hatte sie geglaubt, ihre Aufgabe sei es, sich um Anton zu kümmern. Was wäre aus ihm geworden, hätte er ganz allein zurückbleiben müssen? Durch ihre gute Stellung bei Elisabeth hatte sie Geld sparen können. Geld, welches sie für seine Ausbildung benutzen wollte. Wie sonst sollte es ihm später einmal möglich sein, für sie zu sorgen? Luzia machte sich nichts vor: Eine Frau war auf dieser Welt verloren, wenn sie auf sich allein gestellt überleben musste. Ohne die Fürsorge eines Vaters, Bruders oder Ehemannes würde sie über kurz oder lang in der Gosse landen. Ihr Vater lebte nicht mehr, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie einmal heiratete, war denkbar gering. Ihr niederer Stand verbot es im Grunde, auch nur darüber nachzudenken. Kein Mann, der davon erfuhr und noch alle Sinne beisammenhatte, würde sie auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen. Blieb also nur Anton. Doch als Knecht würde er es schwer haben, eine Schwester durchzubringen, wenn diese einmal zu alt und gebrechlich zum Arbeiten wurde.
«Luzia, ist was mit dir?
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