Die Giftmeisterin
sind umgeben von Tod und Verwüstung, doch wir sprechen nicht darüber. Niemand tut das. Wenn Eugenius und ich unseren Blick vom Buch heben und auf das Land richten und danach einander kurz in die Augen sehen, dann wissen wir, dass wir dasselbe denken.
Ein langer Zug von etwa einhundert aneinandergefesselten, völlig zerlumpten Menschen kommt an der Hütte vorbei. Es handelt sich um die als Geiseln genommenen Sachsen, die auf königlichen Befehl in fränkische Reichsteile gebracht werden, wo man sie in Lager stecken und zu guten Christen und Untertanen »umerziehen« wird. Ich, die ich davon gehört, aber geglaubt hatte, dass es sich um kräftige Männer handeln würde, erschrecke, da ich nun erkenne, dass die meisten von ihnen Kinder sind sowie ein paar Mütter mit Säuglingen auf dem Arm, Frauen in meinem Alter...
Ich schäme mich. Ich sitze vor einer Hütte, die vergangenen Monat vielleicht noch einer dieser Frauen gehört haben mag, und kann nicht anders, als mich zu schämen. Als die Wachmannschaften den Zug anhalten lassen, um sich an einem nahe gelegenen Brunnen zu erfrischen, lege ich das Buch zur Seite, entschuldige mich bei Eugenius und gehe langsam zu den Leuten hinüber.
»Wieso gebt Ihr den Sachsen nichts zu trinken?«, frage ich den Offizier.
»Sie haben heute Morgen getrunken.«
»Das ist lange her, es ist warm und sie müssen laufen, während Ihr zu Pferd seid.«
»Sie kriegen heute Abend zu trinken.«
»Ihr seht es doch, es ist genug Wasser für alle da. Wieso also erst heute Abend?«
»Ist eben so«, sagt er.
»Ich bin die Gemahlin des Konnetabels Arnulf, und ich wünsche, dass Ihr den Durstigen zu trinken gebt.«
»Konnetabel Arnulf hat mir nichts zu sagen. Ich gehöre
nicht den Reitertruppen an, sondern einer dem König direkt unterstellten Einheit.«
»Was genau hat der König befohlen?«
»Dass ich den Geiseln nur morgens und abends Wasser geben soll.«
»Waren das seine Worte?«
»ja.«
»Gut, dann lasst Euch sagen, dass Ihr ihnen nichts zu trinken geben müsst, da ich es tun werde. Mir hat der König nämlich dergleichen nicht befohlen.«
»Ihr haltet Euch wohl für schlau? Nun gut, da gibt es allerdings ein Problem.«
»Welches?«
Der Offizier grinst. »Ich habe die Kelle in meiner Hand. Und ich gebe sie nicht mehr her.«
Ich zögere einen Moment. Angesichts eines ungehobelten Offiziers, der die Abzeichen königlicher Autorität trägt, werde ich unsicher. SchlieÃlich jedoch lasse ich mich nicht von dem abhalten, was mein Herz mir befiehlt.
Ich wende mich dem Eimer zu, der am Rand des Brunnens steht, tauche meine Hände hinein und schöpfe etwas Wasser, das ich zu einem ungefähr zehn Jahre alten Jungen trage. Ich biete ihm Wasser an, doch er ist trotzig, und so sehr ich mich bemühe und ihm in meiner Sprache, die er kaum versteht, gut zurede, weigert er sich beharrlich, den Mund zu öffnen, gerade so, als wolle ich ihn vergiften. Das Wasser tropft mir zwischen den Fingern hindurch, und ich gebe diesen Jungen auf. Mit einer zweiten Handvoll Wasser gehe ich zu einem ungefähr zwölfjährigen Mädchen, von dem ich mir weniger Trotz erhoffe. Tatsächlich saugt sie das Wasser begierig
aus meinen Händen, ich lächele ihr zu und sage ihr ein nettes Wort, und sie sieht mich an - und spuckt mir das ganze Wasser ins Gesicht.
Der Offizier und die übrige Wachmannschaft lachen schallend, von den Sachsen jedoch lacht niemand. Keiner verzieht auch nur eine Miene. Ich sehe den Hass in ihren Augen, und ich spüre, wie er mich erreicht und in mich eindringt, ich spüre, wie er sich ausbreitet. Ich hasse. Nicht das Mädchen oder den Jungen hasse ich, mein Hass geht in eine andere Richtung.
Eugenius ist von hinten an mich herangetreten und führt mich fort von dem Sklavenzug zurück in den Schatten des Baumes. Er scheint in mich hineinsehen zu können, denn er sagt: »Ich rate Euch, diesen Vorfall niemals zu erwähnen, schon gar nicht gegenüber dem König. Ihr würdet in Streit geraten, Euch und Eurem Gemahl sehr schaden und dennoch keinem nutzen.«
»Ihr versteht nicht, was...«
»O doch, ich verstehe sehr gut, was in Euch vorgeht. Wenn der König in diesem Moment vor Euch stünde, wärt Ihr fähig, ihm all Eure Abscheu ins Gesicht zu schleudern, so wie es eben noch das Mädchen bei
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