Die Gilde von Shandar: Die Spionin
war, hatte es noch begehrenswerter gemacht. Danar erinnerte sich an seine eigenen Raubzüge und besonders an die Prügel, die ihm sein Vater verabreicht hatte, als er dabei erwischt worden war, wie er Lord Vittaras nagelneue Glocke stehlen wollte, die der alte Nörgler erst ein paar Minuten zuvor vor seine Tür gelegt hatte. Die Prügel waren schmerzhaft gewesen, hatten ihn aber nicht daran hindern können, am nächsten Tag zurückzukehren und die Glocke seiner Sammlung einzuverleiben.
Lord Kemptens Haustür öffnete sich, und ein Dienstmädchen in einem schlichten braunen Kleid mit einer gestärkten weißen Schürze grüßte Danar höflich und lud ihn ein, ins Warme hereinzukommen. Das tat er gerne und trat mit einem freundlichen Dankeswort rasch über die Schwelle. Als er sich in der Eingangshalle mit den Bildern, Wandbehängen und alten Kriegsflaggen umsah, die die Wände schmückten, stiegen noch mehr Erinnerungen in ihm auf. Vor ein paar Jahren war er mit seinem Vater bereits einmal hier gewesen. Es hatte sich nichts verändert – gar nichts. Die gesamte Eingangshalle sah noch genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte.
»Ah, der junge Lord Danar, was für eine freudige Überraschung!«, rief Lord Kempten, als er die Halle aus einer Seitentür betrat. Der alte Lord streckte ihm die Rechte entgegen, als ob er einen Ebenbürtigen begrüßen wollte, was Danar zunächst überraschte, denn er war es gewohnt, dass ihn sein Vater noch immer wie einen herumstreunenden kleinen Jungen behandelte. »Kommt, trinkt eine Tasse Dahl mit mir. Ich habe gerade einen frischen Topf aufsetzen lassen, und der Röte Eures Gesichtes nach zu urteilen, muss es draußen recht frisch sein. Ein heißer Tropfen wird Euch bestimmt guttun.«
»Vielen Dank, Lord Kempten, das ist sehr freundlich von Euch«, erwiderte Danar, ehrlich überrascht von dem Empfang des alten Herrn. Er hatte Lord Kempten als einen griesgrämigen alten Mann in Erinnerung, der nichts für junge Leute übrig hatte und kaum jemals ein gutes Wort für jemanden hatte. Bei der Krönung hatte er seinen üblichen mürrischen Gesichtsausdruck gehabt, und die augenblickliche Herzlichkeit passte so wenig zu ihm, dass es schon verdächtig war.
Lord Kempten führte ihn in den Salon, wo Lady Kempten mit einem Stickrahmen auf dem Schoß und einer offenen Schachtel voller Garnrollen auf einem Beistelltischchen in einem bequemen Sessel saß. Eine dampfende Kanne Dahl und zwei leere Tassen sowie ein Napf mit Honig standen auf einem anderen Tisch bereit. Als Danar sich vor Lady Kempten verneigte und sich bei ihr für die Störung in ihrer Freizeit entschuldigte, trat ein weiteres Dienstmädchen mit einer dritten Tasse ein und begann, den Dahl auszuschenken.
»Ihr stört ganz und gar nicht, Danar«, erwiderte Lady Kempten liebenswürdig, legte ihre Stickerei zur Seite und lud ihn ein, sich in einen der anderen weichen Sessel zu setzen. »Wir freuen uns immer über Besuch. Ich fürchte, unsere Kinder sind zurzeit alle weg, um die eine oder andere Besorgung zu machen. Zu welchem von ihnen wolltet Ihr denn gerne?«
»Ehrlich gesagt, Mylady, wollte ich gerne mit Lord Kempten sprechen, aber es wird mir eine Freude sein, zuerst mit Euch eine Tasse Dahl zu trinken«, gab Danar mit leicht verlegenem Lächeln zurück.
»Oh, Männergespräche, ja?«, fragte sie augenzwinkernd. »Nun, ich werde Euch nicht stören. Möchtet Ihr ein paar Minuten allein mit meinem Mann sprechen? Wenn ich lieber gehen soll, kann ich mich sicherlich auch anderweitig beschäftigen.«
»Unsinn, Liebling, ich bin sicher, dass der junge Lord Danar über nichts sprechen möchte, was nicht auch für deine Ohren geeignet wäre«, meinte Lord Kempten bestimmt. »So ist es doch, junger Mann, oder?«
»Nun …«, begann Danar zögernd. »Dränge ihn doch nicht, mein Lieber. Wenn es ihm angenehmer ist, mit dir von Mann zu Mann zu sprechen, ist es kein Problem für mich, euch zwei Minuten allein zu lassen.«
»Vielen Dank, Lady Kempten, für Euer Verständnis. Ich verspreche auch, dass ich Euren Mann nur ein oder zwei Minuten in Anspruch nehmen werde.«
Lady Kempten goss noch den Dahl ein, bevor sie ihre Tasse nahm und mit einem leisen Lächeln still das Zimmer verließ. Danar hoffte inständig, dass Kempten keine außereheliche Beziehung zu Alyssa unterhielt. Lady Kempten wirkte wie eine glückliche Ehefrau, und Danar brachte es nicht über sich, sich vorzustellen, dass sie zu hören bekam, Lord Kempten habe eine
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