Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Glasmaler gebannt, und sie erstarrte bei der Erkenntnis, dass sie in genau dem Lichtteich lag, der Prinz Tuvashanoran den Tod gebracht hatte.
Rani hatte einen Moment das Gefühl, aufschreien zu müssen. Sie wandte das Gesicht unwillkürlich zum Fenster. Sie konnte sich Prinz Tuvashanorans hübsches Gesicht vorstellen, das unendlich wärmer und freundlicher gewesen war, als zu dem Zeitpunkt, als sie seine leblosen Glieder einbalsamiert hatte. Sie erinnerte sich der atemlosen Erwartung, welche die Kathedrale an jenem anderen Tag ergriffen hatte. Es sollte ein Pfeil auf sie warten. Sie hatte gelogen, um zur Kathedrale zu gelangen. Sie hatte betrogen. Sie hatte gestohlen. Sie hatte gemordet.
Je stärker Rani versuchte, die Ereignisse zu vergessen, die sie zur Kathedrale geführt hatten, desto heftiger sehnte sie sich nach dem Ende ihrer Abenteuer. Sie atmete in kurzen, abgehackten Zügen, und ihre Hände ver- und entkrampften sich, als erleide sie gerade einen Anfall Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als in ihrem Bett in der Mansarde aufzuwachen und die Laken zu spüren, die um ihre Brust festgesteckt waren, während ihre Mutter ein Fieber von ihrer Stirn wusch. Sie wollte nur Bardos feste Stimme hören, die ihr erklärte, wie man einen Fuder Messer oder ein Paar Schnallen eintauschte.
»Ruhig, ruhig, Marita.« Es war nicht die Stimme, um die sie gebetet hatte, aber sie klang unendlich freundlich. »Beruhige dich, Erste Pilgerin.« Shanoranvilli reichte ihr eine trockene, welke Hand. »Die Rede der Tausend Götter erklingt laut, und sie bewegt die Herzen der Menschen. Um wie vieles stärker wirken jene Worte in den Ohren eines Kindes? Erhebe dich, Erste Pilgerin, und nimm deinen Platz im Hause Jairs ein.«
Rani klammerte sich an den König wie an eine Rettungsleine, erhob sich mühsam, ohne seine papierne Haut loszulassen. König Shanoranvilli legte seine welken Hände auf ihren Scheitel, und dann beugte er sich herab und küsste sie ein Mal auf jede Wange. Sie atmete noch immer den königlichen Moschus- und Bergamotteduft ein, als der Verteidiger des Glaubens ihr den Pilgerumhang wieder um die Schultern legte. »Sei tapfer, Kleines«, flüsterte der König, und dann wandte er sie der Menge zu.
Die versammelten Pilger waren während Ranis Anfall in Schweigen versunken, vom einfachen Glauben eines Kindes betroffen. Jairs Wächter sahen unbewegt zu. Solche Hingabe würde gewiss neue Gläubige durch die Kathedralentüren strömen lassen, wenn sich das Gerede durch die Stadt verbreitete.
Shanoranvilli legte seine welken Hände auf Ranis Schultern, während sie aus dem kobaltblauen Lichtstrom trat, und rief: »Seht die Erste Pilgerin!«
Gut geschulte Altardiener öffneten schwungvoll die Kathedralentüren und bereiteten den Weg für den königlichen Auszug. Rani schüttelte den Kopf, um die durch ihre zitternden Glieder bewirkte Benommenheit abzuschütteln. Erst als sie in dem weißen Licht, das den Mittelgang hinabströmte, eulenhaft blinzelte, machte sie die Gestalt eines einzelnen Pilgers aus, der bereits zu den Türen getreten war, der bereits jenseits von Jairs Wächtern stand, auf der Schwelle zwischen der Kathedrale und der Stadt.
Ranis Begrüßungsschrei wurde von der Antwort der versammelten Pilger auf Shanoranvillis Ruf verschluckt. Eintausend Stimmen riefen laut: »Heil, Erste Pilgerin!«
Niemand hörte Rani mit zwei einfachen Silben antworten. »Bardo!«
Endlich war ihr Bruder erschienen und stand als breitschultrige und stille Silhouette vor der Mittagssonne.
12
Während Rani den Mittelgang der Kathedrale hinabschritt, streckten Pilger an Jairs Wächtern vorbei die Hände aus, um ihren schwarzen Umhang zu berühren. Sie schrak zunächst davor zurück, aber dann spürte sie Shanoranvillis starke Gegenwart hinter sich, als der König seine Hände auf ihre Schultern legte. Rani reckte das Kinn und schritt weiterhin durch die Menge aus.
»Betet für mich, im Namen Munes!«, krächzte ein Mann, und der Ruf wurde von anderen aufgenommen.
»Betet für mich, im Namen Zakes!«
»Betet für mich, im Namen Doans!«
Rani nickte auf jede Bitte hin, unsicher, wie sie richtig reagieren sollte. Sie berührte alle Hände, die sich ihr entgegenstreckten, und beobachtete, wie ein Pilger nach dem anderen auf die Knie sank und Gebete oder Dankesworte murmelte, weil die Erste Pilgerin einen einfachen Besucher auf dem Weg der Tausend Götter zur Kenntnis genommen hatte.
Rani reckte die ganze Zeit den Hals und
Weitere Kostenlose Bücher