Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
das sorgenvolle Zittern beim Gedanken an ihre Familie. Und sie brauchte noch einen Moment länger, um ihren nachklingenden Zorn auf den König abzulegen, der den Tod ihrer Familie befohlen hatte. Es war nicht Shanoranvillis Fehler gewesen, hielt sie sich selbst vor. Diese Last fiel Dalarati zu. Diese Last fiel dem Mann zu, der Tuvashanoran getötet hatte, dem Mann, den sie getötet hatte.
Sobald der König sie sich selbst überlassen hatte, erkundete Rani das königliche Kinderzimmer. Erst als sie ihre Betrachtung des Raumes beendet hatte, erkannte sie, dass sie nicht allein war. Einer der Prinzen war da. Halaravilli, der Kronprinz, letzter überlebender Erbe aus König Shanoranvillis erster Ehe, spielte in der Ecke des riesigen Raumes mit Zinnsoldaten.
Rani erkannte ihn sofort. Sie hatte ihr ganzes Leben lang königliche Prozessionen gesehen, und sie hatte erst kürzlich beobachtet, wie Entsetzen sein Gesicht überzog, als sein Bruder auf dem Kathedralenpodest vor seinen Augen niedergestreckt wurde. Halaravilli war zwei Jahre älter als Rani und wurde von Privatlehrern unterrichtet. Dennoch wurde von dem jungen Prinzen erwartet, dass er die Mahlzeiten mit seinem jüngeren Halbbruder und seinem Stall voller Halbschwestern einnahm. Und es war ihm anscheinend gestattet, in einer ruhigen Fensterlaibung mit den Spielsachen seiner Kinderzeit zu spielen.
Zinnsoldaten, dachte Rani. Der nach Tuvashanorans Tod zum Kronprinzen von Morenia aufgestiegene Junge ließ wie ein kleines Kind Ritter und Lakaien über ein hölzernes Spielbrett marschieren. Sie rümpfte beinahe die Nase, als sie sich der Geschichten über Halaravillis schlichten Geist erinnerte. Tatsächlich ignorierten die meisten Leute Halaravillis erlauchten Namen vollkommen und sprachen von ihm nur als von »diesem armen, mutterlosen Kind«.
Rani wusste, wie alle Leute in der Stadt es wussten, dass Halaravilli der Tod seiner Mutter gewesen war. Sie war dem Kindbettfieber erlegen, bevor der Prinz eine Woche alt war. Die Geburt war für Mutter und Sohn schwierig gewesen. Gerüchte verbreiteten sich weithin, dass Halaravilli langsam sei, und mehr als nur ein wenig seltsam. Laut geflüsterten Berichten zufolge, hatte er bis zu seinem fünften Geburtstag nicht gesprochen. Alle in der Stadt wussten, dass der Prinz nie gekrabbelt war – er ging unmittelbar vom Sitzen dazu über, auf unsicheren Beinen durchs Kinderzimmer zu wanken, trotz der besten Bemühungen seiner Kinderfrauen, ihn auf die Knie zu zwingen, damit er sich wie ein normales Kind entwickeln sollte.
Der arme Junge war nie für den Thron vorgesehen gewesen – diese Ehre sollte stets Tuvashanoran zuteil werden. Tuvashanoran sowie einem Trio weiterer Brüder, denen allen Unheil zugestoßen war. Ein Prinz hatte einen tragischen Reitunfall erlitten, war auf seinem ersten Ritt außerhalb der Stadtmauern unter die Hufe seines Pferdes geraten. Ein Prinz war dem Gift einer rubinroten Mamba zum Opfer gefallen, einer seltenen Schlange, die irgendwie auf den Übungsplatz gelangt und im Staub des Palasthofes verendet war, nachdem sie ihren verhängnisvollen Biss ausgeführt hatte. Und ein Prinz war in einer bitterkalten Winternacht von einem Fieber befallen worden und hatte zwei Wochen lang phantasiert, bevor er der Krankheit erlegen war.
Halaravilli war also nie für den Thron vorgesehen gewesen. Der Prinz war ein schwaches Schilfrohr, das als letzte Verteidigung der königlichen Linie dienen sollte, gleichgültig wie großartig sein ältester Bruder, Prinz Tuvashanoran, gewesen war. König Shanoranvilli hatte seine dynastischen Verbindlichkeiten neu organisiert. Nachdem Halaravilli seine Mutter mit dem Kindbettfieber getötet hatte, hatte der König keine Zeit verschwendet und sich eine neue Frau genommen.
Königin Felicianda war aus den Ländern weit im Norden gekommen und hatte einen mächtigen Bund zwischen dem fernen Königreich ihres Vaters und dem gut regierten Morenia geschmiedet. Sie hatte als Königin gut gedient und einen Haufen Kinder geboren, die fast zwanzig Jahre jünger waren als ihr ältester Bruder, als Tuvashanoran, der alle Hoffnungen des Königreiches getragen hatte. Königin Felicianda hatte dem König pflichtbewusst fünf überlebende Kinder geschenkt – einen Sohn und vier gesunde Töchter.
Während Rani Prinz Halaravilli nun im Kinderzimmer betrachtete, betrat die Horde der jüngeren Kinder lärmend den Raum. Prinz Bashanorandi – der einzige Sohn aus der zweiten Verbindung des Königs
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