Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
heiliges Zeichen, während sie auf seine Fragen antwortete. Wie falsch auch immer ihre Worte für sie selbst klangen – der Verteidiger war offenbar gewillt, sie zu hören. Die Gemeinde war ebenfalls gewillt, sie anzuhören, und einzelne Pilger bedachten ihre Darbringungen mit Ausrufen, nahmen ihre Weihungen als ihre eigenen an. Jairs Wächter sahen mit klarer Billigung zu, während sich in der Gemeinde Leidenschaft aufbaute.
»Und so, Marita«, schloss Shanoranvilli, während er Ranis Pergament offensichtlich zufrieden zusammenrollte, »stehst du vor dieser Gemeinde und weihst deine Pilgerreise und das kommende Jahr welchem Gott?«
Diese Frage überraschte Rani, aber sie zögerte kaum, bevor ihre Sopranstimme bis in die entferntesten Ecken der Kathedrale drang. Sie erinnerte sich an die schwarze Asche ihres Zuhauses und das verwaiste Chaos von Essensresten auf dem Tisch der Händler, bevor sie zu den Glasmalern gebracht wurde, bevor ihr Leben zusammenbrach. »Fell, dem Gott der Familien.«
Wenn sie erwartet hatte, dass König Shanoranvilli bei ihrer Wahl Reue zeigen würde, so wurde sie enttäuscht. Sie benannte Fell als eine Herausforderung, als vor die königlichen Füße geworfenen Fehdehandschuh, aber der Verteidiger des Glaubens schien die Bedeutung hinter ihren Worten nicht zu erkennen. Noch während Rani Erinnerungen an ihre ermordete Familie heraufbeschwor, sah sie König Shanoranvilli jedoch mit seinen eigenen Erinnerungen ringen.
Das starre Rückgrat des alten Mannes sackte zusammen, und die Furchen um seinen Mund vertieften sich. Rani konnte den Kummer so deutlich erkennen, wie sie auch ihren eigenen spürte. König Shanoranvilli hatte auch ein Familienmitglied verloren. Er hatte seinen geliebten Sohn verloren. In Ranis Geist kreisten ihre eigenen Erinnerungen um den edlen Tuvashanoran, und sie musste stark blinzeln.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie in dem König mehr als nur einen halsstarrigen Monarchen, mehr als eine grausame Bestie, welche die Vernichtung ihrer Familie befohlen hatte. Nun sah sie in ihm einen verzweifelten Vater, ein verzweifeltes Mitglied einer Familie, der sich nach etwas sehnte, was niemals wieder sein konnte, niemals wieder sein würde. Shanoranvilli sehnte sich danach, dass sein geliebter Sohn von seinem Scheiterhaufen zurückkehrte.
In diesem Moment flog König Shanoranvilli Ranis Herz zu. Zum ersten Mal, seit sie in Dalaratis Blut gekniet hatte, verspürte sie ein klein wenig Frieden. Sie hatte recht daran getan, den Soldaten auszulöschen. Dalarati hatte dem König Kummer bereitet. Dalarati hatte König Shanoranvilli dazu getrieben, Rache an Ranis Familie zu üben. Mit Dalaratis Tötung hatte Rani die Auslöschung ihrer Familie aufgewogen.
Rani fühlte sich, als wäre ihr ein Schleier von den Augen genommen worden. Sie schluckte schwer, als sie erkannte, dass sie mehr mit dem König gemein hatte, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Sie spürte diesen Bund beinahe als etwas Physisches, als der Verteidiger sie langsam zum Altar umwandte, um mit ihrer feierlichen Amtseinsetzung als Erste Pilgerin fortzufahren. Etwas ließ Shanoranvilli jedoch innehalten, und als er zu ihr herabblickte, war in den Tiefen seiner Augen ein trauriges Lächeln erkennbar. »Und, junge Pilgerin Marita, welche Gilde repräsentierst du hier heute?«
Der König meinte die Frage eindeutig als Ehre, denn es war ein Bruch der traditionellen Liturgie, da er Ranis einzigartigen Status als Lehrling und treue Büßerin erkannte. Dennoch war sie auf diese Frage völlig unvorbereitet, und ihr fiel keine Antwort ein.
»Euer Majestät?«, flüsterte sie und bewirkte damit kurzzeitige Belustigung unter den übrigen Pilgern.
»Welche Gilde repräsentierst du? Dein Name zeigt an, dass du einer Gilde angehörst, und du bist alt genug, um ein Lehrling zu sein. Welche Gilde hat den Wunsch der Tausend Götter erkannt und dir erlaubt, den Weg von Zarithia zur Stadt zu beschreiten?«
Ranis Kehle verschloss sich vor ihrer Antwort. Das Sonnenlicht strömte hell durch die Buntglasfenster, und ihr fiel nur die Gilde ein, der sie verschworen wurde. Wenn sie dieses Wort jedoch aussprach, würde sie ihr Todesurteil unterzeichnen – alle Anwesenden wussten, dass die Glasmaler aus dem ganzen Königreich verbannt waren und ihr Name an diesem heiligsten aller Orte verhasst war.
»Komm, Kind«, flüsterte Shanoranvilli ihr zu, während ein freundliches Lächeln seine uralten Lippen teilte. »Du darfst
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