Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
verstreuten Rosenblättern hinunter. Jairs Wächter reihten sich hinter ihr auf, den Mittelgang der Kathedrale entlang.
»Und wer nähert sich an diesem Morgen von Jairs Festtag dem Altar all der Tausend Götter?« Shanoranvillis Stimme erschallte bis zur hohen, gewölbten Decke der Kathedrale und wurde von allen Glasscheiben in den glänzenden Fenstern zurückgeworfen. Dies war König Shanoranvilli, der sprach, derselbe König, der befohlen hatte, dass Rani wie ein Wild gejagt wurde, der befohlen hatte, dass ihre ganze Familie gefoltert und getötet wurde. Als Rani vor dem Monarchen stand, schwankte sie und musste einen Schleier vor ihren Augen fortblinzeln, ein dünnes Gewebe, das ebenso blutig wirkte wie die Tropfen, die sie für die Bruderschaft vergossen hatte. Der Priester tippte Rani an, und sie zwang sich, dem König ins Gesicht zu sehen.
»Ich bin…«, sie schluckte schwer, als sie sich gerade noch rechtzeitig daran erinnerte, dass Herolde den Namen Ranita Glasmalerin wochenlang in den Straßen ausgerufen hatten. Sie konnte ihren Gildenamen nicht preisgeben und wagte es auch nicht, ihrem Geburtsnamen Rani zu vertrauen. Sie dachte verzweifelt an die Anführerin der Unberührbaren, die sie gerade auf dem Marktplatz verlassen hatte. »Marita«, improvisierte sie, noch immer einen Gildenamen beanspruchend. »Marita Pilgerin, geehrtester Verteidiger des Glaubens.«
Sie konnte sich kaum überwinden, seinen Titel auszusprechen. Sie war nicht auf das Lächeln vorbereitet, das er ihr gewährte, auf den königlichen Segen, der ganz Morenia – Soldaten und Adlige, Gildeleute und Händler – seit Jahrzehnten bezauberte.
»Hast du deine Pilgerrolle, Marita Pilgerin, die beweist, dass du die Pilgerschaft des Jair vollendet hast?«
Rani umklammerte die Pergamentrolle, die Salina ihr in die Hand gedrückt hatte. »Ja, geehrtester Verteidiger des Glaubens.«
»Dann zeige diese Pilgerrolle vor, damit ich deine Bereitschaft, die Erste Pilgerin zu sein, sowie deine Eignung für dieses höchst ehrbare Amt bestätigen kann.«
Die Pergamentrolle bebte, als Rani, vor Angst und verdrehtem Zorn zitternd, sie König Shanoranvilli darbot. Er hob das Dokument mit beiden Händen an und zeigte es der Menge, die angemessenen Respekt bezeigte.
»Und so, Marita von… Zarithia«, las Shanoranvilli von der Pilgerrolle ab, und Rani zwang sich aufzupassen. Sie würde die geschriebenen Worte vielleicht niemals sehen, die ihre Reise bezeichneten, obwohl sie sich wahrscheinlich als wichtig erweisen würden, bevor diese Scharade vorüber war. »Du begannst deine Pilgerreise in der Stadt Zarithia?«
»Ja, Verteidiger.« Ranis Antwort stellte den König zufrieden.
»Und du hast deine Reise welchem Gott geweiht?«
»Charn, dem Gott der Messer«, improvisierte Rani. Aus einem Land der Waffenschmiede kommend, würde eine solche Antwort wahrscheinlich anerkennend aufgenommen. Tatsächlich nickte Shanoranvilli, als hätte er ihre Worte erwartet. Er konnte nicht wissen, dass sie an ein Messer als ein Instrument der Rache dachte, ein Werkzeug, um die ihrer Familie geschuldete Ehre abzuringen.
»Und du bist über Borania gereist?«
»Ja, Verteidiger.«
»Und deinen dortigen Aufenthalt hast du welchem Gott geweiht?« Der König sah sie erneut direkt an, und sie nahm an, dass ihre persönlichen Weihungen nicht auf ihrer Pilgerrolle vermerkt waren.
Ihre Annahme wurde bestätigt, als er bei ihrem hastig improvisierten »Nome, dem Gott der Kinder« anerkennend nickte.
Erneut eine logische Wahl für einen so jungen Menschen wie sie. Der König las ihre gesamte Pilgerrolle durch und befragte sie zu jedem Halt auf ihrer Pilgerreise. Sie erlangte zunehmend mehr Selbstvertrauen, während sie antwortete und auch ihren Schutzherrn Lan nannte, was die versammelten Gläubigen zum Lachen brachte, die sich wohl vorstellten, wie sich die kleine Pilgerin vor ihrer Reise den Bauch vollstopfte. Sie nannte außerdem den Gott der Tiere (sie hatte im Haus ihrer Eltern immer ein Haustier halten wollen), den Gott der Musik (die Trompetenfanfare klang ihr noch in den Ohren), den Gott der Blumen (die auf dem Altar ausgestreuten Blüten erfüllten ihre Nase mit einem wundervollen, schweren Duft) und den Gott der Leitern (Roan, ihr alter Favorit, der gewiss etwas mit ihrer Anwesenheit hier zu tun hatte, angesichts ihres zeitlich schlecht gewählten Aufstiegs auf das Gerüst außen an der Kathedrale).
Shanoranvilli nahm jede Darbringung an, nickte und vollführte ein
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