Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
versuchte, Bardo im hellen Rahmen des Eingangs auszumachen. Seine Gegenwart zog sie an wie eine Schlange einen Adler.
Sie schrie beinahe enttäuscht auf, als die Prozession die geschnitzten Kathedralentüren erreichte und er nicht mehr da war. Zorn stieg aus ihrem Bauch auf, und sie stemmte die Füße auf die Schwelle des Eingangs, entschlossen, sich die Chance nicht nehmen zu lassen, ihren Bruder zu finden. Während sie dort stand, war außerhalb der Kathedrale eine rasche Bewegung zu erkennen, und eine dunkle, gebräunte Hand streckte sich aus, um ihr über die erhöhte, hölzerne Schwelle zu helfen.
»Geehrteste Erste Pilgerin, betet für mich.«
Rani erkannte die Stimme aus ihren Träumen. Sie erinnerte sich von ihren Spielen als unbekümmertes Kind an den Tonfall, aus der Zeit, als sie noch eine Händlertochter war, die ihren Teil dazu beitrug, Kunden in den Laden ihrer Eltern zu bringen. Unerwartete Tränen traten ihr in die Augen, als sie in das Gesicht ihres Bruders aufblickte.
»Bardo…«, flüsterte sie und schluckte die übrigen Worte überrascht hinunter. Ihr Bruder wirkte weitaus älter als beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte, als er sie durch die Straßen zu der unglückseligen Glasmalergilde begleitet hatte. Falten verliefen von seinen Augen aus, als hätte er lange Nächte damit verbracht, blinzelnd in eine Kerzenflamme zu blicken. Tiefe Furchen hatten sich in die Haut um seine Lippen gegraben. Als Sonnenlicht auf ihn herabströmte, erblickte Rani Silberfäden in seinem Haar – ein Schimmern, das vor wenigen Monaten gewiss noch nicht da gewesen war.
Bardo sank wie jeder demütige Pilger auf die Knie. »Bete für mich, Erste Pilgerin. Im Namen des großen Gottes Roat, bete für mich.«
Die Bitte beunruhigte Rani. Ihr eigener Bruder sollte nicht vor ihr knien – er war Bardo! Er war der einzige Verwandte, den sie noch hatte. Wie konnte sie ihn sich wie einer der gewöhnlichen Unberührbaren hinknien lassen? Sie streckte eine kindliche Hand aus und wollte ihm hochhelfen.
Bevor Rani jedoch handeln konnte, trat Shanoranvilli zwischen sie und Bardo. Der König verhielt sich, als hielte er Bardo für eine Bedrohung, als wollte er Rani vor unwillkommenen Aufmerksamkeiten dieses beharrlichen Pilgers beschützen. Unter anderen Umständen hätte es Rani mit Ehrfurcht erfüllt, dass der König für ihr Wohlergehen eintrat, aber jetzt heulte sie fast vor Zorn.
Bevor Rani um den König herumtreten konnte, hörte sie Bardos Stimme, durch Shanoranvillis üppige Gewänder gedämpft. »Betet heute Abend für mich, Erste Pilgerin. Denkt daran, im Namen Roats, des Gottes der Gerechtigkeit, betet für mich.«
»Das werde ich!«, piepste Rani, aber bevor sie sich ihre Wiedervereinigung vor Roats Altar vorstellen konnte, wurde sie schon die Stufen der Kathedrale hinab in die Menge gedrängt, von den Wächtern des königlichen Haushalts umringt.
Den restlichen Tag nahm Rani nur vage wahr. Sie wurde in die Privatgemächer der königlichen Familie geführt. Sie erhielt ein Glas mit Wasser versetzten Wein und einen Silberteller mit gebuttertem Brot mit süßem, glänzenden Honig. Man sagte ihr, sie würde in Kürze die königlichen Prinzen kennen lernen, und sie wurde ins königliche Kinderzimmer gebracht.
Das Kinderzimmer würde für das nächste Jahr Ranis Zuhause sein. Die Erste Pilgerin wurde in der königlichen Familie willkommen geheißen, als wäre sie hineingeboren, und König Shanoranvilli schien über das zarte Alter seines neuesten Familienmitgliedes nur milde belustigt. Rani wusste jetzt natürlich, dass sie nicht die ganze Zeitspanne im Palast bleiben würde. Bardo würde sie fortbringen. Er würde zu ihr kommen, worum sie zu Roat gebetet hatte, und sie dorthin bringen, wo auch immer er in der Stadt lebte.
Noch in dieser Nacht würde sie wieder mit ihrem Bruder zusammen sein, wieder in einer behaglichen Familie. Sie erinnerte sich ganz kurz des Zorns, der auf Bardos Gesicht aufgeflammt war, als sie seine Schlangentätowierung entdeckt hatte. Sie verdrängte diese düstere Erinnerung jedoch bewusst.
Bardo war ihr Bruder. Welche Geheimnisse auch immer er in der Vergangenheit geschützt hatte, war nicht mehr wichtig. Rani hatte der Bruderschaft die Treue geschworen. Sie hatte vor den Schlangen geblutet, damit Bardo zu ihr käme. Er konnte jetzt, wo sie von seinem geheimen Leben erfahren hatte, nicht mehr böse sein.
Während Rani die beruhigenden Worte ständig wiederholte, unterdrückte sie
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