Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
fremdartige Tochter aus fernen Landen. Die Gerüchte besagten, dass das Volk der Königin grimmige Kämpfer waren, geschickt mit Waffen und gescheit bei Spielen. Wie sonst hätte Königin Felicianda ihre Heirat mit dem König aushandeln können? Welche Lektionen hatte Prinz Bashanorandi zu Füßen seiner ihn abgöttisch liebenden Mutter gelernt?
Aber Rani konnte sich natürlich nicht erneut aus dem Palast stehlen, und sie hatte keinen Grund anzunehmen, dass Bardo in der Kathedrale wäre, wo er doch den ganzen Abend, die ganze Woche, nicht erschienen war. Außerdem hielt der Tumult im Kinderzimmer noch immer an, während die jungen Prinzessinnen von einem Bett zum anderen huschten, ihre niedrigen Stühle und Tische umwarfen und Spielzeuge über die Fliesen verstreuten. Die königlichen Kinderfrauen bemühten sich, ihre Schützlinge zur Ruhe zu bringen, indem sie sie mit einer Mischung aus Strenge und mütterlichem Lächeln in die Betten zurückscheuchten. Die jüngste der Kinderfrauen hatte sich dem Kamin am entgegengesetzten Ende des Raumes zugewandt und schwang gerade einen kleinen Kessel über die offenen Flammen, um einen beruhigenden Trank aus Milch und Gewürzen zu erwärmen.
Rani betrachtete das Durcheinander mit großen Augen, ein wenig erschreckt über das Chaos, das sie verursacht hatte. Bevor sie den Raum zu ihrer Schlafstelle durchqueren konnte, sagte Halaravilli vom Eingang seines Schlafzimmers her: »Die Pilgerin kehrt zurück, die Pilgerin kehrt zurück. Wie eine Schlange ins Nest, kehrt die Pilgerin zurück.«
Diese Analogie erschütterte Ranis Sinne, und sie wirbelte zu dem Prinzen herum. »Was habt Ihr gesagt? Wie habt Ihr mich genannt?«
Bevor Hal jedoch antworten konnte, ergriff Bashi das Wort, der seinen Bruder mit belustigter Duldung betrachtete. »Du musst ihn ignorieren, Marita Pilgerin. Er begreift nicht, dass seine Worte jene von uns mit normalen Empfindungen beleidigen können.« Bashi verbeugte sich leicht vor ihr und lächelte gewinnend, und Rani wunderte sich über die verschwörerische Heiterkeit in seiner Stimme. »Außerdem«, flüsterte Bashi so, dass sein Bruder es eindeutig hören sollte, »weiß der Narr nicht, dass Vögel Nester bauen und nicht Schlangen?«
»Saugen Eier aus«, erwiderte Hal. »Saugen Eier aus.« Bashi jaulte protestierend auf, stürzte sich auf seinen Bruder und trug noch zu dem allgemeinen Tumult bei, als die beiden Jugendlichen schließlich auf dem harten Steinboden miteinander rangen.
Als es den Kinderfrauen gelang, die Jungen zu trennen, hatte Bashi einen gezackten Kratzer an seinem fleischigen Daumenballen davongetragen. Hal war, obwohl er kleiner war als sein jüngerer Bruder, unbeschadeter aus diesem improvisierten Kampf hervorgegangen. Bashis blaue Augen loderten, als er seinem Hass auf den Kronprinzen mit höhnischem Grinsen Ausdruck verlieh, wobei sein Blick durch einen sich auf seinem Wangenknochen bildenden, blauen Fleck noch zorniger wirkte. Als die Kinderfrauen die Jungen schelten wollten, schüttelte Hal heftig den Kopf. »Schlangen saugen Eier aus«, beharrte er. »Vögel bauen Nester, Schlangen finden Nester, Schlangen saugen Eier aus.«
»Ja, ja«, sagte das älteste Kindermädchen eilig. »Nun setzt Euch hier herüber und trinkt Eure Milch wie ein guter Junge.« Hal begegnete Ranis Blick, während er sich wie ein Kind davonführen ließ, seufzte aufgebracht und brachte ein ungewöhnlich schelmisches Lächeln hervor. Rani konnte nicht umhin, freundlich zu reagieren, während sie ihren Becher entgegennahm.
Später in dieser Nacht, als das Kinderzimmer schließlich zur Ruhe gekommen war, dachte Rani an die heftige Auseinandersetzung im Gang zurück, an Larindolians plötzliches Auftauchen. Die Räume des Schatzmeisters befanden sich nicht einmal im königlichen Flügel des Palastes. Woher war der Adlige also im Dunkel der Nacht gekommen? Gewiss nicht aus dem Kinderzimmer – das lag am Ende des Ganges. Die Tür zu den Gemächern des Königs war schwer bewacht gewesen, auch während die Soldaten Rani anriefen. Daher blieb nur eine Anordnung von Räumen in dem Flügel als Möglichkeit – höchst interessant, dass der Adlige dort einen späten Abend mit der königlichen Familie verbracht haben sollte. Larindolian war aus Königin Feliciandas Gemächern gekommen.
Während die Menschenmengen auf dem Marktplatz lärmten, zog Rani die Schultern hoch und war dankbar dafür, dass der Tag feuchtkalt war. Sie wirkte in ihrem schweren Pilgerumhang
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