Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
methodisch gefoltert wurden, während Rani durch die Straßen der Stadt streifte.
Die Gefangenen wussten, dass sie Prinz Tuvashanoran ermordet hatte. Sie brauchten keine solch albernen Förmlichkeiten wie eine Verhandlung. Rani versuchte nicht, sich zu verteidigen, während sie den stinkenden, feuchten Gang entlang ging. Sie hoffte, dass später Zeit dafür wäre, Zeit, die Wahrheit zu sagen, bevor König Shanoranvilli sie verurteilte.
Den übrigen Glasmalern war natürlich keine Verhandlung gewährt worden. Die Gefangenen sorgten dafür, dass sie die Einzelheiten erfuhr. Die Glasmalerlehrlinge waren schreiend aus ihren Zellen gezerrt und mit blutigen Stümpfen anstelle der Daumen wieder in die kalten Steinräume gebracht worden. Es hatte Wochen gedauert, aber schließlich waren alle Glasmaler verstümmelt – die Lehrlinge abgeschlachtet und die Ausbilder gefoltert und verletzt, bis sie kaum mehr als Geister waren. Einige waren gestorben und auf dem Verbrecherfriedhof außerhalb der Stadtmauern begraben worden, die Läuterung einer Bestattung auf dem Scheiterhaufen war ihnen für immer verweigert. Andere waren letztendlich freigelassen worden, um sich ein erbärmliches Leben auf den feindlichen Straßen der Stadt zu suchen. Nicht ein Glasmaler war in den Verliesen verblieben.
Ranis Familie war auch keine Verhandlung gewährt worden. Sie hatten in ihrer Zelle gekauert, an die Rückwand gepresst, damit die anderen Gefangenen ihre Scham nicht sähen. Der eingesperrte Abschaum hatte jedoch genug gesehen, um Rani Einzelheiten zu erzählen, die sie niemals wissen wollte. Sie kannte die Reihenfolge, in der ihre Brüder und Schwestern aus den Verliesen gebracht worden waren. Jetzt konnte sie die Folterungen aufzählen, die sie erlitten hatten, als sie sich weigerten, den ihnen völlig unbekannten Aufenthaltsort ihrer vermissten Tochter-Schwester preiszugeben. Und Ranis viel zu lebhafte Phantasie ließ sie die Seile um ihre Hälse spüren, bevor sie wie gewöhnliche Diebe gehängt worden waren.
Sie musste ihre Gedanken immer wieder gewaltsam von ihren Gräbern in der kalten Wintererde losreißen. Sie untersagte es sich erfolglos, an Würmer und Dreck und verwesendes Fleisch zu denken.
Zuerst ihre Brüder, dann ihre Schwestern. Ihre Mutter. Ihr Vater.
Und nun hatte sie nur noch einen lebenden Bruder – Bardo, der bereit gewesen war, sie der rauen Gnade der Bruderschaft der Gerechtigkeit zu übergeben. Rani fand nur wenig Trost in dem Wissen, dass die Soldaten, die sie in die Verliese gezerrt hatten, die Bruderschaft ebenfalls gefangen hatten. Bardos und Salinas bewaffnete Wächter waren an einer anderen Stelle des Labyrinths unter dem Schloss eingesperrt.
Gildemeisterin Salina war auch dort gewesen, in diesem trostlosen Verlies voller Frauen und unglücklicher Familien. Nachdem sich die Frau heiser geschrien hatte, war sie dazu übergegangen, ihren Zinnbecher an die Gitterstäbe zu schlagen. Die Wächter entwanden ihr den Becher, nur um mit einem harten Lederschuh Bekanntschaft zu machen. Schließlich war die Gildemeisterin unter vielen Flüchen – ihre Zähne hatten mindestens einen Soldaten getroffen – fortgebracht worden.
Obwohl Rani die alte Frau zu verachten gelernt hatte, ersehnte sie sich den Trost eines solch rebellischen Geistes. Dann erinnerte sie sich an das Böse, das Salina ihr angetan hatte, die Entscheidung, welche die Gildemeisterin getroffen hatte, als sie zuließ, dass Ranis Mitlehrling Larinda verstümmelt wurde. Salina hätte damals noch die Macht besessen, den Wahnsinn aufzuhalten, aber sie hatte nicht gehandelt. Jetzt war sich Rani sicher, dass die Gildemeisterin die finsteren Treuezugehörigkeiten der Bruderschaft dazu benutzt hatte, ihre Flucht zu arrangieren, vor Wochen, als alle Glasmaler inhaftiert wurden. Es hatte ihr freigestanden, in den Straßen weiterhin Übles zu tun, und alle Gildeleute, die anzuführen sie geschworen hatte, wurden gefoltert, während Salina durch das Labyrinth der Bruderschaft in den Stadtmauern stolzierte.
Rani betrachtete noch einmal die dünne Schleimsuppe in ihrer Schale und spürte, wie sich ihr leerer Magen rebellisch zusammenzog. Sie trank den Becher lauwarmen Wassers, ließ die Schale aber über die Fliesen schliddern und beobachtete mit trauriger Befriedigung, wie sie an den Gitterstäben der Zelle auf der anderen Seite des Ganges zum Halt kam. Der Gefangene in dieser Zelle schrie triumphierend auf und riss die Schale an sich, bevor ein Wächter
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