Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
seinen Schatzmeister näher zu sich heran. Rani konnte die geflüsterten Worte des Königs gerade so verstehen, war sich aber sicher, dass sie den weiter entfernten Zeugen in dem riesigen Raum entgingen. »Ich bin alt. Ich bin müde. Ich trauere noch immer um den Verlust meines ältesten Sohnes sowie um diesen neuen Verlust der Pilgerin, die ich in mein Haus nahm. Ich wage es nicht, die Macht der Kugel des Inquisitors anzurufen.«
Der König hätte ein solches Eingeständnis niemals vor dem versammelten Gerichtshof machen dürfen, vor Soldaten, Schriftführern und den namenlosen Untertanen von Jairs Wächtern. Rani sah ein Leuchten in Larindolians Augen funkeln, ein Aufblitzen freudiger Bestätigung, dass er richtig lag, dass der morenianische Thron pflückreif war. Im Moment hatte der Verschwörer jedoch keine andere Wahl, als sich ergeben zu verbeugen. »Natürlich nicht, Euer Majestät. Ich sorge mich nur um den Prinzen. Ihr wisst, dass er noch jung ist. Ich dachte, dass ihm die Bürde dieser Entscheidung erspart bleiben sollte. Vielleicht sollte er sie mit seinem Bruder teilen.«
Bashi, der neben dem Thron seiner Mutter stand, runzelte die Stirn, während er dem Gespräch der Älteren lauschte. Er warf einen raschen, besorgten Blick auf Larindolian, nur ein Aufblitzen über die sitzende Gestalt des Königs hinweg, aber für Rani sprach dieser Blick Bände. Bashi erwartete, dass Larindolian den Sieg davontrug.
Wie als Echo auf die Wünsche ihres Sohnes, legte Königin Felicianda ihrem Mann eine Hand auf den Arm, und Rani dachte einen kurzen Moment, der Schatzmeister könnte mit seinem Protest Erfolg haben. Wenn der König das Gefühl hatte, das Vertrauen in seine Königin beweisen zu müssen, dann könnte er tatsächlich zulassen, dass sich die Prinzen die Verantwortung teilten.
Bevor sich Rani ausrechnen konnte, was es sie kosten würde, wenn Bashi über sie urteilen würde, räusperte sich Hal. »Ich bitte um Vergebung, Sire.« Er neigte respektvoll den Kopf vor Larindolian, und Rani fragte sich, ob sie als Einzige im Raum erkannte, dass der Prinz eine Hand zur Faust geballt hatte. »Mit allem gebotenen Respekt vor Lord Larindolian – die Krone ist eine schwere Bürde, und sie kann nicht auf zwei Köpfen ruhen, während Ihr dereinst mit Jair in den Himmlischen Gefilden wandelt – möge dies erst in ferner Zukunft der Fall sein.« Hal hielt inne und vollführte ein heiliges Zeichen. Es war eine merkliche Verzögerung erkennbar, bevor die gebannten Zuschauer Jair ebenfalls baten, den König noch viele Jahre lang zu beschützen. Rani bemühte sich, ihrem Beispiel zu folgen und rang dabei mit ihren schweren Eisenketten. »Ich kann dies tun, Sire. Vertraut mir, dass ich meinen ältesten Bruder rächen werde.«
Die Leidenschaft von Hals Worten war bis in die letzten Reihen im Raum spürbar, und selbst Bashi trat überrascht zurück. Der Hof hatte sich so sehr an Hals Singsang-Spiele gewöhnt, dass seine ruhige, einsichtige Logik die Menschen überwältigte. Shanoranvilli betrachtete seinen ältesten lebenden Sohn eine lange Minute und nickte. »Dann nur zu, mein Sohn. Suche unter Jairs Führung Gerechtigkeit.«
Hal vollführte erneut das heilige Zeichen und rief die Unterstützung des Pilgers und das Licht all der Tausend Götter an. Dann hob er den Blick und verkündete unmittelbar an seinen Vater gewandt: »Zunächst fehlen uns noch zwei Gefangene. Wache!«
Einen Moment herrschte Verwirrung, und dann wurden die Türen des Raumes erneut heftig aufgestoßen. Zwei Gruppen Soldaten schwärmten in den Raum. Rani verrenkte sich fast den Hals und ignorierte den starken Druck des Eisens an ihrer Kehle, als sie ihre Mitangeklagten erkannte – Bardo und Gildemeisterin Salina.
Dann, bevor Rani darüber nachdenken konnte, was deren Anwesenheit für sie, für die Stadt, für die Bruderschaft, bedeutete, hob Hal eine gebieterische Hand und winkte die nächststehenden Wächter Jairs zu sich. Zwei schwarz gewandete Gestalten glitten aus den Laibungen zwischen den nächstgelegenen Säulen. Der erste Wächter trug ein schmiedeeisernes Gestell mit sich, aus kunstvoll gearbeitetem, tief dunklem Metall, das auf vier stabilen Beinen auf dem Boden ruhte – ein Bein für jede der vier Kasten der Adligen, Soldaten, Gildeleute und Händler.
Sobald das Gestell Halt gefunden hatte, trat der andere Wächter herbei und balancierte eine kopfgroße Kugel auf dem Metallgestell aus. Rani hatte schon früher von der Kugel des Inquisitors
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