Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
aufzunehmen. Du weißt, wie gut ich zeichnen kann, wie ich das Glas gestalten kann…«
»Ich weiß, wie du mir versprochen hast, meine Freundin zu sein.«
»Varna!« Goody Tinkers Stimme durchschnitt Ranis erstickte Erwiderung. »Ich sagte dir, dass du mich wecken sollst, wenn diese gottverlassenen Narren zurückkämen.« Bevor Rani in die Nacht entschwinden konnte, trat Varnas Mutter in den Eingang ihres rußgefleckten Hauses, ein schlafendes Kleinkind in einem stämmigen Arm.
»Goody Tinker!«, rief Rani aus. »Was ist passiert? Wo ist meine Familie?«
»Geh, Hexenkind!« Die Finger der Frau vollführten eilig ein Schutzzeichen. »Du hast dem Prinzen Böses zugefügt, also glaub jetzt nicht, du könntest zurückkommen, um auch noch die Heime guter Menschen zu zerstören.«
»Heime zerstören? Goody Tinker, ich hatte nichts damit zu tun! Wo sind meine Mutter und mein Vater? Wo ist Bardo?«
»Fort! Wie du es auch sein solltest! Welches Schicksal auch immer sie trifft – es ist zu gut für sie!«
»Goody Tinker, ich verstehe nicht! Ich weiß nicht, was Ihr meint…«
»Ja, und wir wussten nicht, was die Soldaten meinten, als sie uns aus den Betten zerrten. Sie ließen mir kaum Zeit, Varna zu wecken und meine Dona aus der Wiege zu nehmen – sie hätten meinen Kleinen einfach so wehgetan.« Die Frau schnippte vor Ranis Nase mit den Fingern. »Wenn sie nicht innegehalten hätten, um den Plunder deines Vaters zu konfiszieren, hätten wir vielleicht alle in unseren Betten geschmort, während Rauch aufgestiegen wäre.«
Rani starrte auf die verkohlten Steinplatten, auf die Hitze, die die Stände ihrer Nachbarn verzogen hatte. Sicher, das Heim des Kesselflickers stand noch, aber der Nebel hatte sich weit genug gehoben, so dass sie erkennen konnte, wie rußgeschwärzt das phantasievoll bemalte Zeichen war – das Schild, auf das Goody Tinker noch vor wenigen Monaten so stolz gewesen war.
»Du hast Schande über uns gebracht, Mädchen! Du hast die Blume Shanoranvillis gepflückt, und die Stadt wird niemals wieder dieselbe sein. Geh weg von hier – du gehörst nicht zu zivilisierten Menschen.«
»Bitte, Goody Tinker, lasst mich erklären…«
»Wache!«
Rani entfloh in die Nacht, ließ ihr Zuhause panisch hinter sich, wollte verzweifelt der Sicherheit entkommen, die sie noch vor wenigen Minuten gesucht hatte. Als sie um die Ecke gelangte, erkannte sie, dass es Varnas Stimme war, welche die Wachen gerufen hatte. Ihre eigene Freundin hatte sich gegen sie gestellt.
Dieses Mal floh Rani ohne bewussten Plan. Sie war erschöpft. Ihr Schlaf im Ofen hatte sie nicht erfrischt. Dennoch konnte sie den Wachen mühelos ausweichen, da sie mit dem Viertel so vertraut war. Der Nebel unterstützte ihre Flucht. Sie glitt in die feuchten Nebelbänke hinein und wieder heraus, während nur die läutende Pilgerglocke und ihr hämmerndes Herz die Stille der schlafenden Stadt unterbrachen.
Derweil grübelte Rani ununterbrochen über Goody Tinkers Worte nach. Ihre Mutter, ihr Vater, alle ihre Brüder und Schwestern… Sie konnten nicht tot sein. Dann hätte Goody nicht in der Gegenwartsform von ihnen gesprochen. Sie mussten wohl eher in Shanoranvillis Verliese gebracht worden sein, widerstrebende Gefährten der Lehrlinge der Glasmaler.
Als Rani Seitenstiche verspürte, verlangsamte sie ihre überstürzte Flucht und verdrängte ihre verbitterten Gedanken. Sie wankte durch verlassene Straßen und stolperte schließlich in äußerster Erschöpfung über ihre eigenen Füße. Während sie ihre Tunika enger um sich zog und an der Taille feststeckte, wünschte sie, sie hätte ihren Umhang behalten können. Als ihre Finger das ausgefranste Loch an der Stelle berührten, wo ihr Gildeabzeichen gewesen war, konnte sie die heraushängenden Fäden nur wie betäubt betrachten.
Diese böse Krähe hatte ihr einen Gefallen getan. Shanoranvillis Erlass gegen die Gilde hätte sie gezwungen, das glänzende Abzeichen selbst zu opfern. Lieber sollte ein anderes Lebewesen von ihrem Verlust profitieren. Dieser Gedanke war so voller Selbstmitleid, dass Rani eine einzelne Träne nicht zurückhalten konnte, die ihre Wange hinablief. Die Träne wurde zu Schluchzen und das Schluchzen zu einem reißenden Tränenstrom. Der dreizehnjährige, in Ungnade gefallene Lehrling weinte sich in den Schlaf, nur vom Läuten der Pilgerglocke begleitet, die Wanderer von den vom Nebel verhüllten Hängen in die Stadt rief.
4
Rani erwachte vor der Dämmerung. Sie erkannte
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