Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
zunächst nicht, was sie aus ihren unruhigen Träumen aufgeschreckt hatte. Dann wurde ihr bewusst, dass sie an der Reihe war, die Küchenfeuer anzuzünden und dass sie sich besser beeilen sollte, sonst würde Cook zornig. Dieser Gedanke erinnerte sie natürlich daran, dass Cook in der Tat zornig war, wenn sie nicht tot war. Und das erinnerte sie wiederum daran, dass sie versprochen hatte, eine Kerze für Lan anzuzünden. Rani rollte sich herum und zwang sich, die Augen zu offnen.
Und schloss sie wieder, als sie den Kreis von Augen sah, die ihren Blick erwiderten.
»Cor!«, rief jemand rau aus. »Du hastse geweckt, Rabe!«
»Ich hab sie nich’ berührt! Sie is’ selbst aufgewacht!«
»Du hast so laut geatmet, dass sie kaum anners konnte, oder?«
Die Unberührbaren! Seitdem sie ein Kleinkind war, hatte man Rani mit der Verbannung zu den kastenlosen Unberührbaren gedroht, wenn sie faul war oder etwas falsch gemacht hatte. »Feg den Kamin aus, sonst schicke ich dich zu den Unberührbaren«, hatte Ranis Mutter gemurrt. »Wenn du diese Silberschnalle nicht polierst, könntest du ebenso gut bei den Unberührbaren leben.« Die Unberührbaren waren schmutzig und grausam und mehr als nur ein wenig eifersüchtig auf jedes anständige Händlermädchen, oder auf einen der Gilde verschworenen Lehrling. Rani beobachtete durch verengte Augen, wie ein Junge – Rabe? – einen schmutzigen Finger ausstreckte, um ihn ihr in die Seite zu bohren. Er traf zielsicher die Quetschungen, die sie sich an der Gildemauer zugezogen hatte, und der Schmerz pochte unter ihrer Haut. »Komm schon. Sag ihr, dass ich dich nich’ geweckt hab, sonst hören wir eine Woche lang nix anderes.«
Rani öffnete die Augen erneut und schluckte schwer, bevor sie sich der offensichtlichen Anführerin der Kinder zuwandte, dem Mädchen, das zuerst gesprochen hatte. Rani musste sich räuspern, bevor sie sich verständlich machen konnte. »Ich bin von selbst aufgewacht. Weil mir eingefallen ist, dass ich im Gildehaus arbeiten muss.«
»Ohhhh«, hauchte das Mädchen. »Das Gildehaus. Ich bitte um Verzeihung, Herrin.« Das Kind der Unberührbaren ahmte einen Hofknicks nach, während ein angewiderter Ausdruck ihre schmutzigen Gesichtszüge verzog, und der Junge schnaubte. »Und welche Gilde wär das?«
»Die Gl…«, wollte Rani antworten, erinnerte sich aber dann des entsetzlichen Angriffs der Soldaten. Wer wusste, welche Geschichten sich bereits bis auf die Straßen verbreitet hatten? Was würden diese Kinder ihr antun, wenn sie erfuhren, dass der König ihren Tod wollte? Sie schüttelte die letzten Spinnweben des Schlafes ab und stützte sich mühsam gegen die Gassenmauer. Eine Hand kroch in ihre Tunikatasche und schloss sich tröstlich um ihr zarithianisches Messer. »Welchen Unterschied macht das für euch?«
»Welchen Unterschied?«, krähte das Mädchen. »Welchen Unterschied? Wir würden nich’ wollen, dass ein unerwünschtes Element nachts durch die Straßen streift, oder? König Shanoranvilli muss ja wohl an seinen Ruf denken. Würde nich’ wollen, dass Pilger in den Straßen der Stadt um ihr Leben fürchten müssen, hm?«
Der Junge stach mit einem spitzen Finger gegen Ranis Brustbein. »Ich glaub nich’, dass du von ‘ner Gilde kommst, wenn du hier auf der Straße schläfst.«
»Ich kann schlafen, wo ich will!«, protestierte Rani und hob trotzig das Kinn an.
»Ja, und wie heißte, damit wir deine Wahl beurteilen können?« Der Junge trat bei seinen drohenden Worten einen Schritt näher, und sein Atem stank, als er Rani zwang, ihm auszuweichen.
»Mein Name ist Ra…« Rani brach ab, bevor sie die zweite Silbe aussprach. Wie lautete ihr Name? Wenn sie ihren Geburtsnamen, Rani, nannte, dann würden die Unberührbaren wissen, dass sie zu einer Händlerfamilie gehörte. Sie könnten sich denken, dass die Tatsache, dass sie sich in der kalten Nacht allein auf den Straßen aufhielt, bedeutete, dass sie aufgrund irgendeiner unergründlichen Schuld aus ihrem Zuhause vertrieben worden war. Wenn sie ihren Gildenamen, Ranita, nannte, würde das nur weitere unwillkommene Fragen bewirken, Auskünfte, die Ranis zerrissene Tunika Lügen strafte. Sie schluckte schwer und formulierte ihren vorgeblichen Namen mit gespielter Selbstsicherheit neu. »Rai.«
Das Mädchen schüttelte verächtlich den Kopf und spie die einzelne Silbe förmlich aus. »Rai. Du willst also ‘nen Unberührbaren-Namen beanspruchen, hä?«
»Den eines Unberührbaren oder den eines
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