Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Dunst rau, und sie war selbst überrascht, als sie plötzlich in Tränen ausbrach.
»Ja, bleib hier stehen! Halt deine Hände so, dass wir sie sehen können!« Die harschen Befehle des Wächters verstärkten Ranis Schluchzen noch, und sie rang durch einen Schluckauf hindurch nach Atem, während sie ihre angenagte Karotte auf die Pflastersteine fallen ließ. Aber noch während sie weinte, formte sich in einem verborgenen Winkel ihres Geistes ein Plan. Sie ließ ihre Tränen noch ein wenig verzweifelter fließen und spähte unter silbrigen Wimpern zu dem Truppenführer empor.
»B-bitte, Euer Ehren«, stotterte sie, brach dann zitternd ab und schluchzte erneut abgehackt. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihre Worte die gewünschte Wirkung zu zeitigen begannen. Der Soldat, der an ihre rechte Seite getreten war, senkte sein Schwert auf die Pflastersteine. Sie schniefte und versuchte es erneut: »Bitte, Euer Ehren, könntet Ihr mir den Weg zum Marktplatz zeigen?«
»Und was soll eine Gossenratte wie du eine Stunde vor der Dämmerung am Marktplatz wollen?«
Rani verzweifelte bei dem rauen Tonfall des Mannes, und ihre Stimme zitterte wirklich, als sie ihre Antwort ersann. »Mein Pa sagt, ich soll ihn dort treffen, wenn ich mich jemals in der Stadt v-verirre!«
»Und wer ist dein Pa?«
»Thomas Pilgrim, Euer Ehren. Wir sind den ganzen Weg von Tyne-on-Shane gekommen.«
»Tyne-on-Shane? Davon habe ich noch nie gehört.«
»Es gibt keinen Grund, warum Euer Ehren davon gehört haben sollten«, antwortete Rani rasch und versäumte zu erwähnen, dass das Dorf wenige Herzschläge zuvor noch nicht existiert hatte. »Wir sind ein bescheidenes, kleines Dorf, hoch im Norden. Euer Ehren kann nicht die Heimat jedes armen Pilgers kennen, der auf Jairs Spuren wandelt.« Rani vollführte eilig ein heiliges Zeichen, während sie den Namen des Ersten Pilgers aussprach, und dachte sogar daran, ein wenig zu schniefen, als der Wächter die Stirn runzelte.
»Wenn du eine Pilgerin bist, wo ist dann dein Stern?« Rani brach erneut in Tränen aus. Sie hatte so sehr gehofft, mit diesem Schwindel durchzukommen. Natürlich wurde sie erwischt – alle Pilger trugen als Symbol ihrer Mission den Tausendspitzigen Stern. Ein Stern wäre ihre Eintrittskarte zu den Gasthäusern entlang der Straße, zu den Stadttoren, zur heiligsten der Kapellen in der Kathedrale gewesen. Mit dem Stern wäre sie eine geweihte Wanderin gewesen, welche die fromme Ergebenheit der Wache hätte beanspruchen können. Ohne ihn war sie nur ein Straßenbalg.
»D-darum bin ich hier.« Sie würgte die Lüge hervor. »Ich hatte meinen Stern, als ich in die Stadt kam, aber ich habe ihn auf den Straßen verloren. Die Unberührbaren haben mich in der Gasse dort angegriffen, und sie haben ihn mir von der Kleidung gerissen. Wenn ich ihn nicht finde, wird mein Pa mir das Fell über die Ohren ziehen.«
Ihr Gewissen zwickte sie, als sie Mair und die Übrigen des Verbrechens gegen ihr ausgedachtes Pilgerselbst beschuldigte, aber sie setzte die Schuld rasch in Verletzlichkeit um und verstärkte das Bild noch, indem sie in dem kalten Nebel ihre dünnen Arme rieb. Ihre Mitleid erregenden Schluchzer nahmen den freundlichen Soldaten sehr für sie ein. »Weine nicht, kleine Pilgerin.« Stämmige Arme zogen sie hoch, und Rani musste sich zusammenreißen, um die raue Uniform nicht wegzustoßen. »Wir werden dich zum Marktplatz bringen. Dein Pa wird dich in der Dämmerung holen kommen.«
»Mein Pa wird nie wieder mit mir reden!«, gelang es Rani auszurufen, während der Wächter aus einem Beutel an seiner Taille ein schmutziges Taschentuch hervorzog.
»Unsinn. Er wird so erleichtert sein, dich zurückzubekommen, dass er vergessen wird, dass du weggelaufen bist. Schnaub dich aus.« Rani putzte sich gehorsam die laufende Nase und verhielt sich wie das Kleinkind, das dieser Soldat offensichtlich eher erwartete als ein selbstbewusstes Mädchen von dreizehn Jahren. »Du hast großes Glück, dass die Wache dich gefunden hat. Du kannst dich niemals genug vor den Unberührbaren in Acht nehmen, und vor anderen Schurken, die diese Straßen durchstreifen.«
»Schurken?« Ranis Stimme zitterte bei dem unvertrauten Wort.
»Ja, kleine Pilgerin. Du musst neu in der Stadt sein, wenn du noch nichts von unserem Kummer gehört hast. Ein böses Mädchen hat geholfen, Prinz Tuvashanoran zu ermorden. Und heute Abend erst hat sie versucht, in den Laden eines Kesselflickers einzubrechen, um Essen zu stehlen, und hat
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