Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Verliesen angekettet. Wahrscheinlich hatte ein weiterer Lehrling seinen Daumen verloren, war zu Gunsten von Ranis Flucht verstümmelt worden. Cook war fast mit Sicherheit tot, Lan beschütze sie. Ranis Familie war gewiss eingesperrt, wenn nicht Schlimmeres, und ihr Zuhause war verbrannt.
Tränen brannten in Ranis Augenwinkeln, aber sie schluckte schwer und schalt sich, dass sie nur auf den stechenden Geruch des Eidotters reagierte, das sich von dem Holztisch löste. Wenn ihr nur nicht befohlen worden wäre, Morada das Mittagessen an die Kathedrale zu bringen…
Morada. Das war der Schlüssel.
Rani glaubte nicht, dass Ausbilderin Morada Tuvashanoran ermordet hatte. Zunächst einmal konnte sich Rani nicht vorstellen, tatsächlich eine kaltblütige Mörderin zu kennen. Weiterhin wusste Rani, dass der Zorn der Ausbilderin in Angst wurzelte, nicht in mörderischer Wut. Drittens – und das war das Wichtigste – war Moradas Körper der einer Glasmalerin. Ihre Finger waren flink und geschickt, und sie konnte eine Glasplatte auf die kompliziertesten Arten gestalten, aber ihre Arme waren die eines Handwerkers. Sie konnte keine Bogensehne straffen. Sie besaß nicht das Geschick, ein Ziel in Hunderten von Ellen Entfernung zu treffen.
Gut. Morada war nicht die Mörderin. Dennoch hatte sie dem Mörder Zugang zu ihrem Gerüst gewährt. Bestimmt war die Ausbilderin deshalb so nervös gewesen, als Rani mit dem Mittagessen eintraf. Das war der Grund für den kalten Hass, den Rani in Moradas grauen Augen erkannt hatte.
Rani wischte sich einen Schweißtropfen aus den Augen. Die Sonne schien warm auf den Marktplatz, und der karmesinrote Umhang des Soldaten saugte die Hitze auf. Sie hockte sich auf die Fersen, zog das Kleidungsstück aus, faltete es sorgfältig und legte es in die Schatten des von Steinmauern umgebenen Standes. Hier, auf dem bevölkerten Marktplatz, würde niemand einen schmutzigen Umhang bemerken. Rani wäre selbst mit dem klaffenden Loch ihres fehlenden Gildeabzeichens praktisch unsichtbar.
Der Lehrling hätte beinahe laut aufgelacht, als sie die Tragweite ihres Gedankens erkannte. Der Markt war der perfekte Ort zum Verschwinden.
Und zu verschwinden wäre für Morada noch wichtiger als für Rani. Morada hatte in der Stadt einen Ruf. Sie war verschiedenen Adligen bekannt, die für ihre Glasmalerdienste teuer bezahlt hatten. Außerdem würde Salina gewiss irgendwann reden, oder die Soldaten würden letztendlich eine Zählung der gefangen genommenen Glasmaler vornehmen. Sie würden merken, dass Morada fehlte, und die Suche würde beginnen.
Morada wäre nirgendwo in der Stadt sicher. Freunde würden sie nicht unter ihrem Dach aufnehmen, aus Angst vor Shanoranvillis Vergeltung. Selbst öffentliche Tavernen wären ihr verschlossen. Die Einrichtungen für Adlige würden sie niemals einlassen. Die Schänken der Soldaten wären zu gefahrvoll. Auch die Händler, die ihre Tageseinnahmen zählten, würden eine Fremde nicht willkommen heißen. Die Gildeleute würden eine der ihren – selbst eine Fremde – zwar mit offenen Armen empfangen, aber nur, wenn diese Fremde ein Geschenk als Beweis ihres Könnens vorweisen konnte. Heute würde kein Glasmalergeschenk mehr irgendwo Zugang gewähren. Morada wäre allein.
Also würde Morada, und Rani gratulierte sich zu ihren Schlussfolgerungen, zum Marktplatz kommen müssen, wenn sie etwas essen oder trinken wollte. Rani brauchte nur die Menschenmengen zu beobachten, die guten Leute, die kamen, um ihre Münzen für die Bestückung ihrer Küchen auszugeben. Rani richtete leise ein weiteres Gebet an Lan, dankbar dafür, dass Cook ihr den Weg zum Küchengott gezeigt hatte.
Sie war sich sicher, dass sie ihre Beute mit Lans Hilfe und ausreichend Zeit finden würde. Ausbilderin Morada war dadurch, dass sie Tuvashanorans Mörder geholfen hatte, ebenso des Mordes schuldig, als hätte sie die Bogensehne selbst gespannt. Der Mord, die Zerstörung des Gildehauses, Larindas Verstümmelung, Ranis Eltern in der Nacht verschwunden, während ihr Zuhause bis auf die Grundmauern niederbrannte… Moradas Liste von Missetaten war lang.
Noch während Rani in Rachegedanken schwelgte, kehrte Narda zurück. »Nun, mein kleiner Eierbecher, wie schreitet die Arbeit voran?«
Rani hatte schon früher Alkohol im Atem Erwachsener gerochen, aber niemals so stark, und niemals so früh am Tag. Sie vollführte eine wohl überlegte Verbeugung, während sie den Weg für Nardas Kontrolle freimachte. »Sehr gut,
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