Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
ihren Rundgang um den Tisch beendete, »du hast es wirklich gut gemacht. Jetzt hasse ich es beinahe, dies zu tun.«
Bevor Rani zurückzucken konnte, zog die alte Frau eine schwere Kette und eine Handfessel hervor. Sie ließ das Eisen um Ranis Handgelenk zuschnappen und befestigte die Kette am Tischbein.
»Herrin!«, keuchte Rani überrascht.
»Was sollte ich sonst tun, kleine Händlerin? Du hast heute gute Arbeit geleistet, aber Borin hat mir deine Arbeit für weitere dreizehn Tage zugesichert. Ich will nicht, dass du das Geld auf deine Weise abzählst und beschließt, dass deine Schuld beglichen sei. Du kannst während der Nacht hier auf dem Marktplatz Wache halten. Keine Angst. Es wird trocken bleiben.«
»Herrin Narda, Ihr könnt mich nicht allein lassen!«
»Unsinn. Hör mit dem Jammern auf! Du bist ein großes Mädchen, und du musst lernen, Verantwortung zu übernehmen.«
»Aber die Unberührbaren…« Rani sprach die Albträume eines Händlerkindes aus und ignorierte die Gewissensbisse, die sie daran erinnerten, dass sie nun Namen der Unberührbaren kannte. Alte Gewohnheiten waren schwer abzulegen, und die Grenzen der Kasten waren gewiss die ältesten aller Gewohnheiten.
»Wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit die Wache rufen. Hier. Das wird dir die Nacht versüßen.« Die Eierfrau nahm einen Kuchen aus ihrer Tasche, der nur ein wenig durch das Leder zerdrückt war. »Schlaf gut, kleine Händlerin.«
Rani sah der Frau nach, als sie davonwankte, um ihre Studien in Schenkenalchemie fortzuführen und ihre letzten Kupfermünzen in Ale umzusetzen.
Rani hatte nicht erkannt, wie ermüdend ihr Tag gewesen war. Sie merkte, dass sie in einen unruhigen Schlaf fiel, noch bevor die Sonne untergegangen war. Sie rollte sich schützend um Tarins halb aufgegessene Melone, den angebissenen Laib Brot und den unberührten, süßen Kuchen zusammen.
Sie wurde gerade in Träume hineingesogen, als ein Zischeln sie wieder aufschreckte. »Schschsch. Sehen wir nach, ob sie Eier bei sich hat!«
Bei diesen Worten setzte Rani sich jäh auf und griff sofort nach ihrem zarithianischen Dolch. Rabe tauchte aus der Dämmerung auf, sein ernstes Gesicht war höhnisch verzogen, als er ihre Klinge sah.
»Das wird dir nich’ viel nützen. Ich würde dir gegens Handgelenk treten, und das Messer würde wegsegeln. Warum lässtes es nich’ fallen und ersparst dir die Qual?«
»Rabe.« Rani drehte sich um und sah, wie Mair ihren Adjutanten aus den Schatten beobachtete. Sie nickte zum Gruß verhalten, und das Mädchen trat an Ranis Seite. »Du hast wohl den Ersten Gott Ait erwartet?« Mair setzte sich auf den Tisch und schwang mit den Beinen, während Rani sich aufrappelte. »Du hast Angst vor uns Unberührbaren, oder?«
»Und warum sollte ich auch nicht? Ich habe genug Geschichten gehört.« Rani reckte trotzig das Kinn empor.
»Geschichten!« Mair gluckste. »Wenn du nur die Hälfte der Geschichten gehört hast, die wir dir erzählen könnten! Über Diebe und Mörder und Geister, die in der Nacht blutige Rache suchen!«
Rani erbleichte, war sich sicher, dass Mair auf Tuvashanoran anspielte, und fragte sich, ob die Anführerin der Unberührbaren sie der Wache übergeben würde. »Du willst mir nur Angst machen.«
»Das haste schon selbst gut besorgt. Welchen Mist ham sie dir über uns erzählt?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ham sie dir erzählt, dass wir nachts in den Gassen Katzen häuten? Ham sie dir erzählt, dass wir Säuglinge entführen und ihr Blut trinken?« Ein Lachen stieg tief aus Mairs Kehle auf, und ihre Finger schlossen sich fest um Ranis Handgelenke, während sie die glänzende Klinge aus Zarithia aus ihrem Griff löste. »Die hübschen Armreifen, die du trägst, Rai.«
»Bitte…« Rani schluckte gegen ihre Angst an – dies waren dieselben Kinder, denen sie letzte Nacht getrotzt hatte, die heruntergekommene Schar, die froh ihre Karotten gegessen hatte. Sie konnten ihr nicht schaden wollen. Rani wiederholte dieses vernunftwidrige Mantra, während sie ihre gefesselten Handgelenke anhob. »Könnt ihr mir hier raushelfen?«
Mair legte das Messer auf den Tisch, während sie Rani einen merkwürdigen Blick zuwarf. »Das können wir nich’ tun. Wir ham unseren eigenen Frieden mit dem Rat geschlossen. Wir brechen ihre Regeln nich’ und sie lassen uns dafür aufm Markt in Ruhe.«
Rani dachte an die schattenhafte Gestalt, die sie am Mittag gesehen hatte, und sie stürzte sich auf die Gelegenheit. »Ihr
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