Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
könnt euch auf dem Marktplatz wirklich bewegen, wie ihr wollt?« Mair nickte. »Dann können wir einen Handel vereinbaren.« Sie rieb sich gegen die nächtliche Kälte die Arme, während sie die Ausbilderin beschrieb, wobei sie Moradas zerrissenen Umhang und die auffällige weiße Strähne in ihrem pechschwarzen Haar hervorhob.
»Wenn wir sie für dich finden, was gibste uns?«
»Wenn ihr nach ihr sucht, teile ich mein Essen mit euch. Narda hat mir heute einen ganzen Laib Brot geschenkt, und Tarin gab mir für meine Arbeit eine Melone. Wenn ihr sie findet, braucht ihr ihr nur zu folgen und mir zu sagen, wo sie sich versteckt.« Rani bot ihnen die halbe Melone dar, die sie sich fürs Frühstück aufbewahrt hatte. Sie zögerte nur einen Moment, bevor sie auch noch Nardas Kuchen als Anreiz dazulegte. Mair schnappte sich das Essen wie ein verhungerndes Tier und schnupperte an dem Kuchen, bevor sie ihn ihrem Adjutanten reichte.
Die Anführerin der Unberührbaren sah Rani weiterhin an, während sie in ihre Handfläche spuckte und ihrer neuen Partnerin die Hand reichte. »Abgemacht.«
Rani spie auch in ihre Hand, und die Ketten klirrten, als sie Mairs Hand ergriff. »Abgemacht.«
Mair fragte nicht, warum Rani Morada suchte, und Rani erzählte nichts freiwillig. Die Anführerin der Unberührbaren reichte Rani ihren Dolch zurück, bevor die Kinder mit den Schatten des Marktplatzes verschmolzen.
Danach verliefen Ranis Tage nach einem bestimmten Muster. Narda erschien jeden Tag in der Dämmerung, schob ihren Karren durch die erwachenden Straßen, während die Eier gefährlich schwankten. Rani erhob sich von ihrem kalten Bett und half dabei, die Ladung abzustützen und die Waren auszulegen, wobei sie glatte weiße und braune Eier abwechselnd anordnete. Narda teilte ihr Frühstück aus gebratenen Mehlklößen, gekochten Eiern oder fettigem Schinken mit ihr, und dann verschwand die Frau in der zunehmenden Menge. Rani verkaufte den ganzen Morgen Eier, glich die Preise den Kunden an und sammelte gewissenhaft Heller in die Ledertasche, die Narda dagelassen hatte. Die Eierfrau kehrte zurück, wann immer sie weiteres Geld brauchte, um ihre Schenkenbesuche zu bezahlen, brachte Essen und lobte Rani für ihre Arbeit.
Tarin kam zur Mittagszeit und in der Abenddämmerung, um ihre Dienste zu beanspruchen – sie kümmerte sich eine Stunde lang um seinen Stand, wenn die Sonne direkt über ihnen stand, und sie schrubbte am Ende des Tages Gemüsereste fort. Jeden Abend bot sie mindestens die Hälfte ihres Essens der Schar Kinder der Unberührbaren an, und Mair berichtete vom stets gleich enttäuschenden Stand der Suche.
Rani wankte nie in ihrem Gehorsam gegenüber dem Urteil des Rates. Sie vernachlässigte nie ihre Verantwortung Narda gegenüber und drückte sich nie vor ihrer Arbeit für Tarin. Sie erhielt nachts nie Schutz, selbst wenn ein beständiges Nieseln den gesamten Marktplatz durchweichte. Sie sah Morada nie.
Bis zum letzten Tag von Ranis zweiwöchiger Strafe.
Dieser Morgen begann wie alle anderen. Rani erwachte zerschlagen auf ihrem rauen Bett unter dem Tisch. Sie streckte sich in der frühen Morgendämmerung und rieb sich die Arme gegen die Kälte, die den herbstlichen Sonnenaufgang durchdrang. Bald schoben Händler ihre Waren heran, schmale Handkarren drängten sich in den engen Gängen des Marktplatzes.
Narda kam spät, und Rani wurde ungeduldig, während sie die Reihen hinabspähte. Sie war Borins Urteil sehr genau gefolgt, und ihre Ketten quälten sie heute Morgen stärker als zu jeder anderen Zeit, seit sie das Gildehaus verlassen hatte. Die Vernichtung ihrer Gilde verfolgte sie in ihren Albträumen noch immer, und Cooks Befehl hallte immer lauter in Ranis Schädel wider. Cook hatte ihr im Namen Lans einen Auftrag erteilt, im Namen des Gottes, der Rani bisher beschützt hatte. Rani konnte sich nicht länger vor ihrer Verantwortung drücken. Aber der Lehrling wusste auch, dass sie ihre Freiheit brauchte, wenn sie Morada jemals finden wollte.
Während Rani dem Küchengott ein erbostes Gebet darbot, drehte sie sich um und blickte zum Zentrum des Marktes, falls sie Nardas Herannahen irgendwie verpasst haben sollte. Während der vergangenen vierzehn Tage hatte Rani die Geheimnisse des Marktplatzes kennen gelernt. Sie kannte seine Schatten und Nischen ebenso gut, wie sie ihr früheres Gildehaus gekannt hatte, ebenso gut, wie sie die Straßen des Händlerviertels gekannt hatte, in denen ihre Familie ihre Waren verkauft
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