Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
zu erweisen. Rani suchte tief in ihrem Beutel nach Nardas Kupfermünzen. Wenn sie schon eine Elle weit in den Schulden bei der Eierfrau steckte, konnte sie sich auch eine Meile hineinstürzen.
»Hier.« Rani hielt der Kreatur die Münzen aus sicherer Entfernung hin. »Kauft Euch etwas zu essen.«
Stahlharte Finger schlossen sich um Ranis Handgelenk, bevor der Lehrling zurückspringen konnte, ein festerer Griff, als sie sich hätte vorstellen können. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht mit der Unberührbaren, konnte der Lehrling das Feuer tief in jenen uralten Augen brennen sehen. »Vergiss deine heutige Lektion nicht. Du kannst Dinge lernen, wenn du es am wenigsten erwartest.«
Das Skelett beugte sich näher heran, und Ranis Magen rebellierte bei dem Gestank nach verdorbener Nahrung und faulen Zähnen. Einen entsetzlichen Augenblick lang dachte sie, die Unberührbare würde sie küssen, und sie stolperte rückwärts, stieß sich die Schulterblätter am Haus. »Ja, Rai, Rani, Ranita. Vergiss nicht, alle deine Lehrer zu befragen.«
Die Zunge des Wesens bewegte sich im Mund wie eine Schnecke an faulen Äpfeln, und Rani wandte sich entsetzt ab. Als das Lachen der Unberührbaren von den verfallenen Häusern widerhallte, floh Rani aus dem verlassenen Viertel.
Sie verirrte sich, als sie die Straße entlanglief, von der sie glaubte, dass Larindolian sie genommen hatte. Sie wanderte durch weitere gewundene Gassen, an weiteren düsteren Eingängen vorüber, drängte sich schließlich an dem Schuttberg eines uralten, eingestürzten Hauses vorbei und kam auf dem Gelände der Kathedrale heraus.
Das heilige Gebäude ragte über ihr auf, und sie konnte nicht umhin, einen Blick auf das Gerüst der Glasmalerin zu werfen, das noch immer unter dem Fenster des Verteidigers stand. Moradas Seil hing noch von den glatten, hölzernen Stützen herab, und Rani stellte sich vor, wie ein Mörder, den Bogen in einer Hand, das wackelige Gebilde erklomm.
Ein Mörder, der ein Bogenschütze war… Natürlich lernten Soldaten, einen Bogen zu handhaben, aber andere ebenso. Jeder Adlige lernte als Kind das Bogenschießen – es war eine der Fähigkeiten, die sich bei Hofe ziemten, da es die Kultiviertheit und feine Lebensart der adligen Kaste zeigte.
Tuvashanoran war auch selbst ein guter Bogenschütze gewesen. Rani wischte unerwünschte Tränen fort, als sie sich daran erinnerte, wie der adlige Prinz Wildbret gejagt hatte, als er selbst kaum mehr als ein Kind war. Eine Hungersnot hatte Morenia geplagt, da Dürre die Ernte im dritten aufeinanderfolgenden Jahr verdarb. Tuvashanoran hatte mit seinen adligen Brüdern eine Jagdgesellschaft angeführt. Zwei Tage von der Stadt entfernt, hatte der Prinz einen großartigen Bock gefunden und erlegt, hatte das Tier mit einem einzigen Pfeil mit Glasspitze getötet. Tuvashanoran, der sich seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Volk stets bewusst gewesen war, hatte das Wild auf dem Rückweg in die Stadt verteilt. Und wo auch immer eine Familie von dem üppigen Fleisch aß, fiel Regen. Die Tausend Götter hatten lächelnd auf den Prinzen geblickt.
Rani vollführte ein heiliges Zeichen, murmelte ein Gebet für Tuvashanorans Seele und richtete ihre geweihten Worte an Bern, den Gott des Regens. Als sie das Gebet fast beendet hatte, änderte sie ihre Bitte jedoch und sprach stattdessen zu Doan, dem Gott der Jäger. Doan schien geeigneter, da Rani selbst zur Jägerin geworden war. Oder zur Gejagten.
In beiden Fällen würde sie wahrscheinlich zu einer Gefangenen in Ketten werden, wenn sie nicht zum Marktplatz zurückkehrte und ihre Abwesenheit auf zufrieden stellende Weise erklärte. Schon jetzt hämmerte ihr Herz beim Gedanken an Nardas Zorn und das Urteil des Rates. Während sich Rani ihren Weg zum Marktplatz zurückbahnte, übte sie ihre Ausflüchte.
Sie hatte ein kleines Kind gefunden, das seine Mutter auf dem beängstigenden Markt verloren hatte. Sie hatte einen weiteren Händler entdeckt, der Eier verkaufte, die zunächst von besserer Qualität als Nardas schienen. Sie hatte Gerüchte über einen Händler gehört, der Ale zur Hälfte des normalen Preises verkaufte, da er seine Waren heute Morgen unbedingt loswerden musste.
Jede der Geschichten klang ihr bereits selbst falsch in den Ohren, und sie gelangte zum Rande des Marktplatzes, ohne einen rettenden Plan zu haben.
Rani war kaum unter Tuvashanorans ausgestrecktem Marmorarm vorbeigelangt, als ihr zwei Ratswächter folgten. Wenn sie sich richtig
Weitere Kostenlose Bücher