Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
wieder hinein, und als er sie neben der Laterne hinabzwang, konnte sie sehen, dass seine Haut blass war und sein Schweiß in die kühle Nacht strömte. »Du kannst nicht gehen! Nicht nachdem du mich dazu gebracht hast, die Bruderschaft zu kontaktieren.«
»Ihr haltet Euch nicht an Euren Teil des Handels«, erwiderte Rani scharf. »Ich habe Euch in einer Woche mehr von Wert gegeben, als ich mein bisheriges Leben lang erhandelt habe, und habe nichts dafür bekommen!«
»Ich arbeite mich die Leiter hinauf«, murrte er zum tausendsten Mal. »Ich weiß nicht, wie ich dir beweisen soll…«
»Was ist das für eine Bruderschaft, die ihre Türen vor einem der ihren verschließt?«
»Du kennst diese Bruderschaft nicht, Mädchen. Du glaubst nur, dass du deinen Bardo kennst. Er sitzt anmaßend in seinem Turm, vom längsten Schlachtfeld beschützt, hinter dem tiefsten Graben liegend, von der höchsten Mauer umgeben, mit mehr Schießscharten als Sterne am Himmel stehen.«
»Habt Ihr ihnen gesagt, wer ich bin? Weiß er, dass es seine Schwester ist, die ihn sucht?«
»Ich habe es jedem gesagt, der mir zuhören will. Meinst du, ich will dich nicht loswerden?«
Während Rani Garadolo nicht allzu weit traute, glaubte sie dennoch, dass er lieber ein warmes Bett hätte als ihre ständigen Streitereien. Aber sie schwor sich, als sie in dieser Nacht auf die Pilgerglocke lauschend einschlief, die ihr gemessenes, trauriges Willkommen über die Stadt breitete, dem Soldaten am Morgen zu folgen. Sie würde ihm bis zu seinem Kontakt mit der Bruderschaft nachspüren, und sie würde Bardo sehen, bevor die Glocke die nächste Nacht einläutete.
10
»Halt, und nennt die Losung!«
Die Stimme erklang zischelnd aus den Schatten. Rani zuckte zusammen und dachte kaum daran, Farnas Umhang enger um sich zu ziehen. Sie hätte beinahe Garadolos Antwort verpasst, während sie den Hals reckte und den Kopf neigte, um die Worte des Soldaten über ihr hämmerndes Herz hinweg zu hören.
»Tarn halte mich von den Himmlischen Toren fern«, murmelte der Soldat, und seine Anrufung des Todesgottes sandte Schauer Ranis Rückgrat hinab. Die Worte erwiesen sich für den Wächter als annehmbar, und Rani beobachtete blinzelnd, wie Garadolo an dem Kontrollpunkt vorbeischlüpfte.
Die Nacht in der Nähe der Stadtmauern war kalt, und Rani musste durch ihren Umhang atmen, um ihre Anwesenheit nicht durch Nebel in der mitternächtlichen Luft zu verraten. Sie hatte einen ereignislosen Tag damit verbracht, Garadolo zu folgen, aber dann hatte er ihr Abendessen mit der jähen Ankündigung beendet, dass er sich in dieser Nacht mit Bardo treffen wolle, komme Cot oder die Mitternachtswache. Rani hatte versprochen, im Quartier des Soldaten zu warten, während sie einen Teil ihres neuesten, gestohlenen Bestechungsgeldes aushändigte – einen Vorrat an Silbermünzen, die sie erst gestern geborgt hatte. Sie hoffte, längst fort zu sein, wenn der Hauptmann der Wache erkannte, dass jemand seinen Schatz gefunden hatte.
Der Diebstahl machte Rani nervös – sie hatte die Aufgabe übertragen bekommen, das Quartier des Hauptmanns zu säubern, und sie würde am ehesten verdächtigt werden, wenn der Soldat seinen Verlust bemerkte. Sie war inzwischen so eng mit dem Soldatenleben verbunden, dass jedes der Mädchen, die mit den Wachen verkehrten, wissen würde, dass sie in Garadolos Quartier zu finden wäre. Ihr Gefühl des Ausgeliefertseins wurde durch ihr Wissen noch erhöht, dass sie Garadolo nicht alle Münzen gegeben hatte. Sie hatte den Löwenanteil des belastenden Beweises selbst behalten, um ihren Fall Bardos Beschützern gegenüber besser vertreten zu können, wenn es ihr gelang, sie zu treffen.
Was auch immer es kosten würde, ermahnte sie sich, sie musste Bardo sehen. Sie musste die Wahrheit hinter der Schlangentätowierung erfahren. Sie musste das Geheimnis um Tuvashanorans Mörder lüften, der noch immer bei Tag und Nacht durch die Stadt schlich. Sie war lange genug herumgelaufen, frierend und hungrig und heimatlos. Rani sehnte sich danach, ihre Scharade zu beenden, zu der einfachen Zeit zurückzukehren, bevor sie je von der Bruderschaft gehört hatte.
Selbst jetzt schaute sie noch mit verblendeter Zuneigung auf ihr Leben als Lehrling zurück. Sie hatte damals solches Glück gehabt, war so privilegiert gewesen, als ihre schwierigste Aufgabe darin bestanden hatte, einen gekalkten Tisch zu schrubben. Ihr Leben war vor Tuvashanorans Ermordung gut gewesen, und ihr Herz pochte
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