Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
schluckte einen Fluch hinunter, aber sein Feuer war eindeutig gelöscht. »Ja, kleiner Tiger. Ich werde morgen dafür sorgen, dass du zu ihm gebracht wirst. Du hast mein Wort darauf.«
Garadolos Wort war ebenso wenig wert wie sein soldatischer Eid, die Armen und Schwachen zu beschützen.
Rani wartete den ganzen nächsten Tag, zu aufgeregt, um an Essen, Saubermachen oder andere Details alltäglichen Lebens zu denken. Sie ermahnte sich, dass ihre indigoblauen Handschuhe gut eingesetzt waren, wenn sie ihren Bruder zu ihr führten. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, die Fragen zu ersinnen, die sie Bardo stellen würde. Sie wollte wissen, warum sie die Schlangen an so vielen Orten gesehen hatte und wie das Zeichen mit Tuvashanorans Ermordung zusammenhing. Sie wollte Bardo fragen, warum er sie nicht gesucht hatte, wie er zulassen konnte, dass ihr Händlerladen bis auf die Grundmauern niederbrannte und ihre Familie in den Verliesen des Königs unsäglichem Entsetzen ausgesetzt wurde. Sie wollte wissen, wie er mit der Bruderschaft zu tun haben konnte, wo sie doch solch schreckliche Geschichten darüber gehört hatte, wo sie doch Zeugin der Verwüstung gewesen war, die sie im Hof der Kathedrale angerichtet hatten.
Bardo hatte immer Antworten auf alles, und Rani sehnte sich danach, seine tiefe Stimme zu hören, ernst und gemächlich, während er ihr alles erklärte. Sie sehnte sich nach dem Trost seiner Weisheit, während sie die Erinnerungen an seinen Zorn bewusst verdrängte. Es war immerhin ihr Bruder, den sie suchte, nicht irgendein verrückter, mit einer Tätowierung versehener Rebell, nicht irgendein mörderisches Mitglied einer Bürgerwehr, das unter Dieben der Unberührbaren mit Nachdruck Gerechtigkeit geltend gemacht hatte. Es musste ein Missverständnis gegeben haben. Bardo würde alles in Ordnung bringen. Er würde das Entsetzen durch Erklärung bannen. Er musste es tun.
Garadolo tauchte am Ende des Tages, trotz Ranis Hoffnungen und Gebeten, wieder allein auf. Er erzählte Rani, dass er ihre Handschuhe verkauft und das Geld dazu benutzt habe, den ersten der unbedeutenden Funktionäre der Bruderschaft zu bestechen. Dieses Bestechungsgeld hatte ihm für morgen ein Gespräch mit einem weiteren Schutzherrn gesichert, aber er musste zu weiteren Zahlungen bereit sein. Der Soldat hielt beredt inne, wartete eindeutig darauf, dass Rani ihren Verbindlichkeiten nachkäme.
Sie zögerte eine lange Minute, bevor sie Dalaratis Münze aus ihrem Beutel nahm. Das Silber bedeutete mehr als ein Frühstück – es war ein Geschenk von dem gut aussehenden Soldaten gewesen. Garadolo prüfte das Metall zwischen seinen Zähnen und nickte anerkennend, bevor er es in den schmutzigen Falten seiner Kleidung verschwinden ließ.
Und so nahm jeder Tag ein Muster an. Rani wartete jeden Morgen ruhelos, räumte den kleinen Raum auf, putzte die Oberflächen, die schon längst glänzten. Jeden Nachmittag saß sie auf der Türschwelle, sicher, dass Bardo jeden Moment um die Ecke käme. Jeden Abend kehrte Garadolo mit einer neuen Ausrede zurück, einer neuen Erklärung, welche Fortschritte er bei seinen Bemühungen, die Bruderschaft zu erreichen, gemacht habe. Jeden Abend kehrten sie in die kleine Messe zurück, Rani aß ihre Ration Soldatenessen und verzweifelte fast bei dem Gedanken, ob sie ihren Bruder je Wiedersehen würde.
Sie wurde erfinderisch darin, Bestechungsgeld für Garadolo aufzutreiben. Häufig putzte sie die Quartiere anderer Soldaten und verdiente sich einige Münzen von den Mätressen der kämpfenden Männer. Einmal schlich sie an den Kontrollpunkten vorbei, wieder in die Straßen der Stadt. Zu stolz, um an Betteln zu denken, gelang es ihr, einen Fremden zu bestehlen, und sie errang für ihre Mühe eine Handvoll Silber. Eine Handvoll, gegen das Gewicht ihrer Seele aufgewogen – sie betrachtete den Handel als fair, wenn sie an Bardo dachte. Ein anderes Mal schlich sie zum unbewachten Schlafplatz eines Soldaten und durchsuchte seine Habe nach etwas Wertvollem. Garadolo fragte sie nicht, woher die silberne Gürtelschnalle kam, als sie sie ihm aushändigte, und sie wagte es nicht, die Information freiwillig preiszugeben.
Während sich die Tage dahinschleppten und Rani eine immer geschicktere Diebin wurde, kam ihr der Gedanke, dass Garadolo vielleicht log. Sie ging einen Abend sogar so weit, mit ihrem Weggang zu drohen, nahm ihre magere Habe und öffnete die Tür des winzigen Raumes. Der Soldat brüllte vor Zorn und zog sie
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