Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
waren, um Kindern die Art des Löwen beizubringen. »Ja, Sohn, da gibt es nichts, weshalb man sich schämen müsste. Wir brauchen Löwen, die stark und tapfer und wahrhaftig sind. Löwen beschützen alte Frauen und ihre Kinder. Es ist keine Schande, ein Löwenjunge zu sein.«
»Ich schäme mich nicht!« Sein Gesicht verdüsterte sich rund um die gekräuselte Narbe.
»Ja, ja! Das ist gut und richtig.« Sie beeilte sich, ihn zu beruhigen. Sie wollte, dass er sein Messer niederlegte, dass er aufhörte, mit der Waffe herumzuwedeln. »Warum solltest du dich auch schämen, wenn du für den guten König Sin Hazar kämpfst?«
Während Shea sprach, begann die Unterlippe des Jungen zu zittern. Shea betrachtete seine zerrissene und beschmutzte Uniform, die an Armen und Beinen zu kurz war. Über seiner Brust war schwach ein bissiger Drache zu erkennen. Das Gesicht des Kindes war verkniffen. Es wirkte hungriger als ihre Waisen.
Sie erkannte, dass dieser Kindersoldat zu weit von jeglichem Heer entfernt war, um ein treuer Kundschafter zu sein. Was hatte den Jungen veranlasst, den Truppen des Königs zu entfliehen? Was hatte ihn davonlaufen lassen, nachdem er aufgenommen worden war, nachdem er dem Verlust seines Geburtsrechts, dem Fortschneiden seines Himmelskind-Schicksals unterworfen worden war? Wenn er einen solchen Angriff überlebt hatte, solch ein gewaltsames Entwurzeln – wie sehr hasste und fürchtete der Löwenjunge seinen König dann jetzt?
Mit einem improvisierten Gebet an Wain, den Gott des Schicksals, wagte sich Shea jäh voran. »Du brauchst nicht bei König Sin Hazar zu bleiben, Sohn. Du kannst dich meinen Kindern und mir anschließen. Hier sind alle Arten von Wesen. Schwäne und Eulen und Sonnen. Und viele Löwen.«
Der junge Mann knurrte, sprang vor und legte sein Messer erneut an Sheas Kehle. »Ich habe Euch gefangen genommen! Ihr versucht gerade, mich zu verwirren!«
»Ganz und gar nicht, junger Mann. Ich versuche niemals, meine Kinder zu verwirren.« Shea reckte das Kinn und nahm eine unglaublich tapfere Haltung ein. Ein Löwe, der eine Sonne bedrohte… Sheas Erfahrungen nach konnte nichts eine Welt erklären, die so aus den Fugen geraten war. »Wirf dieses Messer fort, Sohn, und iss etwas mit uns. Tain, bring diesem Jungen unsere Beeren.« Die Augen des Löwenjungen zuckten zu den Körben neben dem ältesten Sonnenmädchen, und er schluckte hörbar. Die Sehnen an seinem Hals traten wie Grashalme hervor. Der sonnige Duft des Obstes hing über der Lichtung. »Sie sind reif«, lockte sie. »Saftig. Süß.«
Der junge Mann sprang auf die Körbe zu. Als er seine Hände mitten in die Beeren versenkte, erschienen schließlich Sheas drei Löwenkinder am Waldrand, wobei sie Stöcke und Steine bereithielten. »Lass unsere Beeren fallen!«, schrie Hartley.
Der Soldatenjunge folgte der Aufforderung, aber erst, nachdem er hart auf den Rücken und in die Kniekehlen geschlagen worden war. Hartley wandte sich an Shea, sein Gesicht war nicht nur von der Nachmittagssonne flammend rot. »Meine Löwen und ich… wir haben ein Wildschwein gesehen, am Waldrand. Wir wollten frisches Fleisch mitbringen.« Der Löwe schluckte schwer, wollte Shea nicht ansehen. »Es entkam.«
Bevor Shea entscheiden konnte, ob sie ihn trösten oder ihm Vorwürfe machen sollte, wirbelte Hartley zu seinem Gefangenen herum. »Wie heißt du, Junge?«
Beerensaft rann dem Jungen über die Finger wie Blut. Hartley musste seinen Stock anheben und ihn wie eine Keule drohend schwingen, bevor der junge Mann fauchte: »Crestman.« Bevor er noch mehr sagen konnte, knurrte Hartley einen Befehl, und die Löwen fesselten den Jungen mit ihrer zerrissenen Kleidung und knebelten ihn zusätzlich.
In dieser Nacht wartete Shea, bis die Sonnenkinder schliefen, bis Serena ihren ruhelosen Schwanenspaziergang auf dem Dach aufgenommen hatte, bevor sie die Löwen und Eulen zusammenrief. Crestman saß auf der anderen Seite des Raumes, an einen Stuhl gefesselt. Es war ihm gelungen, in einen unsteten Schlaf zu versinken, denn er war von seiner Wanderung offensichtlich erschöpft. Shea warf einen Blick zu dem Jungen und richtete sich dann an ihre Kinder. »Der König kommt näher. Crestman muss ein Deserteur sein, und König Sin Hazars Werbeoffiziere sind ihm wahrscheinlich auf den Fersen. Wir… wir müssen entscheiden, was zu tun ist.« Sie schluckte schwer. Sie traf nicht gerne Entscheidungen. Sie war schließlich eine Sonne.
»Ist das wirklich eine Frage?«, wollte
Weitere Kostenlose Bücher