Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
getrocknete Äpfel, Zwiebelzöpfe und verschiedene Kräuter erkennen. Zwischen den Nahrungsmitteln hingen jedoch bedrohlichere Dinge – gebogene Klingen und militärische Banner, die schmutzig braune Flecken wie getrocknetes Blut aufwiesen.
Als Shea den Kopf wandte, konnte sie eine weitere düstere Ecke ausmachen, die von einem hohen, hölzernen Gestell dominiert wurde. Auf dem Querholz des Gestells saß ein Vogel, ein Vogel, den Shea in den Wäldern Amanthias noch nie zuvor gesehen hatte. Das Tier hatte ein glänzend blaues Federkleid. Sein Körper war so groß wie der eines Huhns, aber länger und stromlinienförmiger, wie die Gestalt eines Spatzes. Es hatte einen langen Schwanz, der üppig mit denselben azurblauen Federn versehen war wie sein Körper. Als Shea blinzelnd hinsah, breitete der Vogel die Flügel aus, und sie konnte erkennen, dass sein Untergefieder perlgrau war, dasselbe Grau, das sich um die gelben Augen des Tieres zog. Shea beobachtete, wie er einen Fuß zum Schnabel führte und mit der methodischen Sorgfalt einer Katze seine vier Krallen säuberte. Die Zunge des Vogels war dick und schwarz und wendig wie die einer Schlange. Als er seinen Fuß gesäubert hatte, begann er, seine wuchtigen, graublauen Flügel zu putzen. Erst als das Tier auch diese Aufgabe beendet hatte, drehte es sich auf seiner Stange, reckte den Hals vor und rief mit einer Kinderstimme: »Füttere mich! Füttere mich jetzt!«
Shea erschrak, als der Vogel sprach, und hob die zitternden Hände, um vor ihren Augen ein Schutzzeichen zu vollführen. Gewiss wurde sie von all den Tausend Göttern bestraft, an einem Ort bestraft, an dem sogar die Vögel laut sprachen. Sie schloss die Augen und betete zu den Göttern, betete um Erlösung von diesem Wesen, von ihrem gewiss nahe bevorstehenden Tod.
»Shea!« Die alte Frau hörte ihren Namen, aber sie weigerte sich, die Augen zu öffnen, weigerte sich, die Dämonen zu sehen, welche die Tausend Götter geschickt hatten, um sie zu quälen. »Shea! Ihr seid wach! Wir haben so lange darauf gewartet!«
Shea glaubte, Crestmans Stimme zu erkennen, und sie spürte seine Finger auf ihrem Arm. Es nützte nichts, sie konnte nicht ihr restliches Leben mit fest geschlossenen Augen verbringen. Wenn die Tausend Götter sie niederstrecken wollten, sie dafür bestrafen wollten, dass sie ihre Kinder allein und ungeschützt zurückgelassen hatte, könnte sie die Bestrafung ebenso gut jetzt entgegennehmen. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, befahl sich, die momentane Erschöpfung zu ignorieren, die sie wieder in Sternenlose Dunkelheit zu befördern drohte.
Als sie blinzelte, konnte sie den Löwenjungen erkennen, dessen Gesicht in der düsteren Hütte bleich schimmerte.
Er strich sich nervös das Haar zurück, rang mit Strähnen, die sich aus seiner Kriegerhaartracht gelöst hatten. Die Bewegung zog Aufmerksamkeit auf die Narbe hoch oben auf seinem Wangenknochen. »Shea, Ihr habt uns Sorgen gemacht!«
»Uns?«, gelang es ihr zu krächzen, und das einzelne Wort ließ sie spüren, wie trocken ihre Kehle war. Sie erkannte, dass sich ihr Körper nach Wasser sehnte – nach kühlem, lieblichem Wasser –, noch mehr, als sich ihr Magen beim Duft des kochenden Essens zusammenzog.
»Ich, Shea. Ich und Davin und Monny und die anderen.«
»Ich… ich verstehe nicht.« Shea hörte die Klage in ihrer Stimme. Aus Angst, dass sie zusammenbrechen und vor dem Kind weinen würde, das ihr Schützling war, zwang sich Shea, ein weiteres Wort auszustoßen: »Wasser.«
Crestman wirkte einen kleinen Moment verwirrt. Sie sah einhundert Geschichten über seine Züge huschen. Er wirkte wie ihre eigenen Kinder, wenn sie von den Feldern nach Hause kamen und begeistert eine neue Geschichte erzählten, von einer neuen Beobachtung berichteten. Sie wusste, dass sie ihm zuhören sollte, dass sie hören sollte, was er zu sagen hatte. Das würde sie zu einer guten Mutter machen. Das würde sie zu einer richtigen Sonnenfrau machen. Sie war jedoch zu müde. Zu müde, um zuzuhören. Zu müde, um sprechen zu können.
Sie spürte Crestmans Arm um ihre Schultern, während er ihren Kopf stützte. Ein Becher wurde an ihre Lippen gehalten, und sie schluckte dankbar, einmal, zweimal, dreimal. Der Junge neigte den Becher ein wenig zu rasch, und kostbares Wasser tröpfelte aus ihrem Mundwinkel, entkam ihren gierigen Lippen. »Das ist gut, Junge«, sagte sie jedoch, als sie den Becher geleert hatte. »Du bist ein guter Löwe, Pom.«
Sie wusste,
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