Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
Geschichtenerzählen gemacht war. Sie war immerhin eine Sonnenfrau! Was konnte er erwarten?
»Und Ihr, Großmutter«, sagte Crestman, während er sie mit einem weiteren Stück Fleisch fütterte, »Ihr solltet auch Vorsicht walten lassen. Es war eine Ehre, dass mich der König mit Eurer Obhut betraut hat, und ich möchte ihn nicht enttäuschen, indem ich Euch jetzt verhungern lasse. Kaut zu Ende. Dann können wir reden.«
»Ja«, sagte Shea mit dem Happen Wildbret im Mund. Als sie ihn hinuntergeschluckt hatte, suchte sie sich ihren Weg durch das trügerische Nesselfeld, das der Löwenjunge vor ihr ausgebreitet hatte. »Der König wollte, dass ich in Sicherheit wäre, nach all den Jahren, die ich ihm gedient hatte. Er schickte mich nach Süden, fort aus seiner Stadt, die seine Feinde zuerst angreifen werden.« Sie spürte, wie sich Crestman neben ihr ein wenig entspannte. Also musste sie richtig vermutet haben. Das musste ihre Geschichte sein.
Monny setzte sich auf die Fersen zurück und wirkte ein paar Minuten lang beschwichtigt. Shea nutzte das Schweigen des Kindes, um ihre Schale Eintopf zu leeren. Erst als sie das letzte Stück Karotte gegessen hatte, stellte Crestman die Schale neben ihrem Bett auf den Boden.
»Nun ruht Euch aus, Großmutter. Ihr seid dort auf der Straße regelrecht zusammengebrochen. Diese Jungen hatten kein Recht, eine alte Frau mit Pfeil und Bogen zu erschrecken.«
»Ich sagte es dir«, beschwerte sich Monny. »Wir wussten nicht, wer ihr seid. Wir waren im Manöver. Wir dachten, ihr wolltet das Schwanenschloss angreifen!«
»Das Schwanenschloss angreifen!«, rief Crestman verächtlich aus. »Eine alte Frau und ein einzelner Hauptmann des königlichen Heers. Welche Art Angriff, meinst du, würde das werden?«
»Davin hat es uns befohlen«, jammerte Monny.
»Wer ist dieser Davin?«, fragte Shea erneut, obwohl die Wogen der Müdigkeit sie erneut zu überschwemmen begannen.
»Davin ist Davin.« Monny zuckte die Achseln, als wäre keine andere Antwort möglich.
»Er ist…«, begann Crestman, wurde aber dadurch unterbrochen, dass die Tür der Hütte krachend aufgestoßen wurde und herbstkalte Luft in den Raum wirbelte.
»Er steht draußen vor der Hütte und lauscht dem nächtlichen Geplapper einer alten Närrin und zweier Kinder.«
»Davin!« Monny sprang aus seiner kauernden Haltung an der Feuerstelle auf und lief durch den Raum zu dem uralten Mann, der hereinkam. Zusammen mit seiner staubigen Kleidung und dem langen, krummen Stab brachte der alte Mann den Geruch des Herbstes mit in den Raum – kühle, frische Luft, von verwelkten Blättern und dunkler Erde gewürzt. »Hier sind sie! Wir haben sie gefangen genommen!«
»Gefangen genommen!« Der alte Mann schnaubte verächtlich durch die Nase. »Sind sie angekettet, eure Gefangenen?«
»Nun, nein…«
»Sind sie durch magische Zauber gebunden?«
»Nein, aber…«
»Wurden ihnen die Kniesehnen durchtrennt, so dass sie nicht davonlaufen können?«
»Nein, Davin, aber…«
»Haben sie König Sin Hazar die Treue geschworen und den Bluteid aus ihren Adern fließen lassen?«
»Nein, aber wir dachten…«
»Ich habe das getan.« Crestman unterbrach Monnys Protest fest und unbewegt. »Ich habe dem König die Treue geschworen.«
Diese ruhige Feststellung brachte den mächtigen alten Mann zum Schweigen und bewirkte, dass sich seine buschigen Augenbrauen über die nachtschwarzen Augen senkten. Davin blinzelte, zuckte die Achseln und schien plötzlich nur noch ein uralter Mann zu sein, der in einer kalten Herbstnacht in seiner Hütte umherwerkelte. »So«, sagte er schließlich. »Du behauptest also, zum königlichen Heer zu gehören?«
»Ich war ein Angehöriger der Truppen des Königs. Ich war ein Hauptmann.«
Wenn der alte Mann die Vergangenheitsform von Crestmans Aussage bemerkt hatte, so reagierte er nicht darauf. Stattdessen deutete er vage in Sheas Richtung. »Und was ist mit der Frau?«
»Der König hat mich mit ihrer Obhut betraut. Sie war sein Kindermädchen, als sie jung war. Er befürchtete, dass sie unterwegs verhungern könnte, so dass ich sie mit mir nahm. Ich gab ihr unterwegs ein wenig von meinem Trockenfleisch. Ich habe sie am Leben erhalten.« Crestmans Stimme wurde im Verlauf seiner Geschichte fester, und er wagte es, dem alten Mann in die Augen zu sehen. »Sie wäre nicht hier, wenn ich nicht gewesen wäre.«
»Und Ihr, alte Frau. Was sagt Ihr?« Davins Blick hielt Shea zum ersten Mal fest. Beim ersten Eindruck
Weitere Kostenlose Bücher